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© miroslavmisiura/iStock

Messen, was wichtig ist

Echter Honig: Patientenrelevante Endpunkte

Wenn Studien den Nutzen von Medikamenten testen, können dabei sehr unterschiedliche Dinge geprüft werden. Allerdings sagen nicht alle dieser gemessenen Endpunkte auch tatsächlich etwas darüber aus, ob es den Kranken hinterher auch besser geht.

Es war einmal ein Arzneimittel gegen Typ-2-Diabetes, das senkte zuverlässig den Blutzuckerspiegel. Außerdem hatte es einen verheißungsvollen neuen Wirkungsmechanismus, der ein wichtiges Problem knacken sollte: Es erhöhte die krankheitsbedingt verringerte Empfindlichkeit der Körperzellen für Insulin. Hersteller und die medizinischen Fachgesellschaften freuten sich. Denn niedrigere Blutzuckerspiegel bedeuten doch bestimmt auch, dass die Patientinnen und Patienten dann seltener an den Spätfolgen von Diabetes leiden, etwa Herzinfarkt, Erblindung oder Nierenversagen. Umso böser war das Erwachen, als sich auf einmal abzeichnete: Das Mittel schädigt das Herz und führt sogar zu mehr Herzinfarkten.1

Weniger Herzinfarkte durch niedrigeren Blutzucker?

Ein Horror-Märchen? Nein, leider traurige Realität: Das ist die Geschichte des Diabetesmittels Rosiglitazon, das im Jahr 2000 zugelassen wurde und 2010 in Europa wieder vom Markt verschwand. Hersteller und Zulassungsbehörden hatten sich bei der Bewertung des Nutzens offenbar darauf verlassen, dass die Blutzuckersenkung auch zuverlässig zu weniger Diabetes-Komplikationen führt.

Ganz aus der Luft gegriffen war die Idee keinesfalls: Weiß man doch aus großen Untersuchungen, dass bei Menschen mit Diabetes zu hohe Blutzuckerwerte langfristig zu mehr Herzinfarkten führen können. Aber das heißt noch lange nicht, dass auch der umgekehrte Zusammenhang gilt: Also dass mit Medikamenten zur Blutzuckersenkung auch automatisch das Risiko für einen Herzinfarkt abnimmt.

Kunsthonig oder Honig?

Wenn wir zum Nutzen von Medikamenten oder anderen Therapien recherchieren, begegnet uns dieses Phänomen sehr häufig: Studien untersuchen oft gar nicht das, was für Patientinnen und Patienten wichtig ist, nämlich zum Beispiel, ob sie durch das Medikament länger leben, weniger Beschwerden haben oder sich ihre Lebensqualität verbessert. Stattdessen messen die Forschungsteams Blutwerte, die Knochendichte oder Veränderungen der Größe eines Krebsgeschwürs.

Das Problem: Es ist sehr häufig nicht klar, ob sich positive Veränderungen bei diesen Messwerten tatsächlich auch in dem niederschlagen, was für Patientinnen und Patienten wirklich zählt. Im Fachjargon nennt man in Studien solche Messwerte auch „Surrogat-Endpunkte“ (Surrogat = Ersatz), die wirklich wichtigen Größen dagegen „patientenrelevante Endpunkte“. Vereinfacht gesagt: Besser kein Honigersatz, lieber echter Honig.

Kein Einzelfall

Wie das Beispiel Rosiglitazon zeigt, kann ein Medikament durchaus einen Surrogat-Endpunkt positiv beeinflussen, aber einen patientenrelevanten Endpunkt verschlechtern. Oder trotz vorteilhafter Effekte auf den Surrogat-Endpunkt lässt sich kein patientenrelevanter Nutzen finden – so geschehen etwa bei dem Brustkrebsmittel Palbociclib, über das wir berichtet haben.

Beim Blick in die Geschichte der Arzneimittelforschung stellt man schnell fest: Diese Erkenntnisse sind nicht neu. Ein besonders aufsehenerregender Fall hat sich bereits in den 1980er Jahren ereignet: Damals suchten Ärztinnen und Ärzte nach neuen Wegen, die Sterblichkeit nach einem Herzinfarkt zu senken. Denn selbst wenn die Patientinnen und Patienten den eigentlichen Infarkt überleben, können danach lebensgefährliche Herzrhythmusstörungen auftreten. Die logische Konsequenz: Dann erhalten die Menschen nach dem Herzinfarkt eben ein Medikament, das Herzrhythmusstörungen vermindert. Das wurde in mehreren Studien untersucht.

Und tatsächlich, der Wirkstoff Flecainid erwies sich in Studien als besonders effektiv in der Verringerung von Rhythmus­störungen: Im EKG zeigten sich positive Effekte. Was jedoch für alle Beteiligten unerwartet war: In der Gruppe mit dem Medikament starben doppelt so viele Menschen wie in der Gruppe mit Scheinpräparat.2

Schnell, schnell…

Warum werden dann überhaupt Surrogat-Endpunkte in Studien untersucht? Oft lautet die Antwort: Weil es in der Regel schneller geht, Effekte auf Surrogat-Endpunkte zu messen als auf Veränderungen bei den patientenrelevanten Endpunkten zu warten. Für Hersteller bedeutet das, dass sie ein neues Medikament erst später auf den Markt bringen können – damit entgehen ihnen also Umsätze. Und klinische Studien werden teurer, je länger sie dauern.

Was nützt Patienten?

Bei der Bewertung von Arzneimitteln interessiert GPSP, welche echten Vorteile sie für die Patienten bringen. Deshalb suchen wir bevorzugt nach Studien, die patientenrelevante Endpunkte testen. Mit dieser Strategie nach den Prinzipien der evidenzbasierten Medizin sind wir übrigens nicht allein: Ähnlich macht es auch das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), wenn es Gutachten für die frühe Nutzenbewertung erstellt. Diese bilden die Grundlage für Entscheidungen des Gemeinsamen Bundesausschusses und die Preisverhandlungen zwischen Herstellern und Krankenkassen.

Schneller verfügbar?

Aber kommen neue Medikamente nicht schneller auf den Markt, wenn in den Studien Surrogat-Endpunkte genutzt werden? Und könnten Patientinnen und Patienten dann schneller mit innovativen Arzneimitteln versorgt werden? Wer so argumentiert, übersieht die Folgen der Ungewissheit. Patientinnen und Patienten können im schlimmsten Fall sogar zu Schaden kommen oder mit unnützen Medikamenten belastet werden.

Beim Blick in die Geschichte gibt es dazu nur wenige Ausnahmen. Dazu gehören Medikamente gegen HIV, die auf der Basis von Surrogat-Endpunkten zugelassen wurden. Erst später bestätigte sich, dass die Mittel nicht nur im Blut die Zahl der Viren senken und die Immunzellen sich erholen, sondern auch wirklich das Fortschreiten der Erkrankung Aids aufhalten und die Behandelten länger leben. Aktuell diskutieren Experten, ob anhaltende Virusfreiheit bei der Behandlung mit Medikamenten gegen Hepatitis C auch ein solcher Fall sein könnte – die Einschätzungen dazu gehen aber auseinander.

Wie viel schneller Medikamente verfügbar werden, wenn sie vor der Zulassung nur im Hinblick auf Surrogat-Endpunkte getes­tet werden, ist übrigens nicht klar. Eine aktuelle Auswertung von Krebs-Medikamenten in den USA schätzt den Zeitvorteil nur auf ein knappes Jahr.3 Für Krebsmedikamente konnten Forschungsteams ebenfalls zeigen, dass der frühere Zugang Patientinnen und Patienten voraussichtlich nicht nützt: So führte eine Verbesserung bei den Surrogat-Endpunkten weder zu längerem Überleben4 noch zu einer besseren Lebensqualität.5

Rosiglitazon
GPSP 4/2010, S. 3
GPSP 5/2010, S. 14

Palbociclib
GPSP 5/2018, S. 4

Frühe Nutzenbewertung
GPSP 6/2013, S. 10

EKG: Elektrokardiogramm – Aufzeichnung der elektrischen Aktivität des Herzmuskels, mit der sich z.B. Herzrhythmusstörungen oder Herzinfarkte erkennen lassen.

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– Gute Pillen – Schlechte Pillen 05/2019 / S.22