Anwendungsbeobachtungen
Scheinstudien fürs Marketing?
Anwendungsbeobachtungen sollen eigentlich helfen, bei einem Medikament nach seiner Zulassung bisher unerkannte Nebenwirkungen aufzudecken. Leider tun sie das nur in wenigen Fällen. Aber warum?
Ein Medikament soll wirksam sein und möglichst wenige Risiken oder Nebenwirkungen (unerwünschte Arzneimittelwirkungen, UAW) haben – das wünscht sich wohl jeder. Weil neue Präparate bei ihrer Zulassung nur bei einer begrenzten Gruppe von Patienten untersucht wurden, ist es in Deutschland gesetzlich vorgeschrieben, dass Pharmaunternehmen auch Arzneimittel, die schon auf dem Markt sind, hinsichtlich ihrer Risiken überwachen. Das geschieht oft per Anwendungsbeobachtung.1
Über geplante Anwendungsbeobachtungen müssen die Arzneimittelhersteller Kontrollinstanzen wie das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen (GKV) und die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) informieren. Zur Meldung gehören Angaben zu Studienort und -dauer, zum Studienziel, ein Beobachtungsplan sowie die Namen der beteiligten Ärzte und Ärztinnen – inklusive der an sie gezahlten Honorare – sowie ein Abschlussbericht.
Daten verbuddelt
Soweit klingen die gesetzlichen Vorgaben vernünftig. Leider sorgen die Hersteller dafür, dass die Ergebnisse in den meisten Fällen ein Betriebsgeheimnis bleiben, also fast nie veröffentlicht werden. Dies haben Wissenschaftler, die sich ehrenamtlich bei der gemeinnützigen und unabhängigen Organisation Transparency International Deutschland (TI-D) engagieren, herausgefunden und publiziert.2 Das Team um Angela Spelsberg durchsuchte die Originaldaten von 558 Studien, die als Anwendungsbeobachtungen zwischen 2008 und 2012 in Deutschland durchgeführt wurden. Die Daten erhielt das Team von den Pharmafirmen allerdings nicht freiwillig – es musste erst vor dem Berliner Verwaltungsgericht auf Akteneinsicht nach dem Informationsfreiheitsgesetz klagen.
Zu wenige Teilnehmer
Bei Transparency fiel früh auf, dass die Anwendungsbeobachtungen im Durchschnitt mit viel zu wenig Studienteilnehmern geplant worden waren, um zum Beispiel „sehr seltene“ Nebenwirkungen aufdecken zu können (siehe Kasten S. 22). Denn solche treten definitionsgemäß nur bei einem von 10.000 Patienten auf. Daher braucht eine Studie wenigstens 30.000 Teilnehmer, um statistisch aussagekräftig zu sein.3 Es war aber nur ein Drittel der Anwendungsbeobachtungen mit wenigstens 1.000 Patienten – nicht etwa mit 10.000 Patienten – geplant worden.
Die wohl brisanteste Entdeckung: Von den 558 erfassten Anwendungsbeobachtungen wurden nur fünf (= 1 %) in wissenschaftlichen Zeitschriften publiziert. Damit verstießen fast alle gegen die in der „Deklaration von Helsinki“ festgelegten Veröffentlichungspflicht für Studien am Menschen („Forscher sind verpflichtet, die Ergebnisse ihrer Forschung am Menschen öffentlich verfügbar zu machen“).4 Zudem konnte nicht nachvollzogen werden, ob und wann unerwünschte Arzneimittelwirkungen aus diesen Beobachtungen filtriert und den Behörden gemeldet worden waren. Und auch das fiel auf: Es waren im Verhältnis sehr wenige Patienten und sehr viele Ärzte beteiligt.
Die Autoren von Transparency, die ihre Studie in einer angesehene Fachzeitschrift veröffentlicht haben, fragen deshalb, ob Anwendungsbeobachtungen überhaupt unerwünschte Wirkung aufdecken können. Für die Datenerfassung werden Ärztinnen und Ärzte gut bezahlt. Die Vermutung besteht schon lange, dass sie auf diese Weise vor allem dazu gebracht werden sollen, ein neues und teures Arzneimittel – statt des gewohnten – auf das Rezept zu schreiben, um Patienten damit vertraut zu machen und es so in den Markt zu hieven.
Zum Beispiel Dabigatran
Bei seiner Auswertung stieß Transparency auch auf eine kritikwürdige Rolle der Zulassungsbehörde. Der Gerinnungshemmer Dabigatran wurde 2008 zugelassen, um Patienten mit Knie-oder Hüftgelenkersatz etwa vor Schlaganfall und Embolie zu schützen. In den Meldeunterlagen für Anwendungsbeobachtungen fanden Experten von Transparency auch Informationen zu Sicherheitsstudien, die dem Hersteller von den Behörden auferlegt worden waren (Post-Authorisation Safety Studies = PASS). Dabei bemerkten sie etliche Ungereimtheiten, an denen sich offenbar die Regulierungsbehörden nicht gestört hatten.
„Forscher sind verpflichtet, die Ergebnisse ihrer Forschung am Menschen öffentlich verfügbar zu machen.“ Deklaration von Helsinki
Mehr Kontrolle nötig
Pharmazeutische Unternehmen sind gesetzlich dazu verpflichtet, Nebenwirkungen zu erfassen und zu melden. Das steht aber im Gegensatz zu ihrem Interesse, möglichst viel Umsatz zu machen. Zu viel Aufruhr um Nebenwirkungen beeinträchtigt das Geschäft und erklärt, weshalb Ärzte und Ärztinnen bei Anwendungsbeobachtungen eine Geheimhaltungserklärung unterzeichnen müssen.
Vieles spricht also dafür, dass eine unabhängige Kontrollinstanz die Studien nach Markteinführung planen und durchführen sollte. Denn die bisherigen Kontrollmechanismen reichen offenbar nicht aus.
Anwendungsbeobachtungen
GPSP 4/2015, S. 3
Nachgefragt
Interview mit Angela Spelsberg, GPSP 1/2014, S. 19
Stand: 8. März 2018 – Gute Pillen – Schlechte Pillen 02/2018 / S.22