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Voreilig abgestempelt?

Demenzdiagnostik auf dem Prüfstand

Um herauszufinden, ob ein Mann oder eine Frau an Demenz leidet, setzen viele Ärzte und Ärztinnen Verfahren ein, die rasch ein Ergebnis liefern sollen. Das Problem dabei: Durch solche Tests kommt es leicht zu vorschnellen und falschen Diagnosen – und falschen Therapien.

Bei den einen ist es der Name eines alten Bekannten, der ihnen eines Tages partout nicht mehr einfallen will. Bei den anderen sind es wichtige Absprachen oder Termine, die sie vergessen. Wieder andere erleben, dass sie immer häufiger verzweifelt nach dem Auto suchen, weil sie sich nicht mehr erinnern, wo sie es das letzte Mal geparkt haben. Wer feststellt, dass das eigene Gedächtnis nachlässt, macht sich verständlicherweise Sorgen. „Bin ich noch normal, oder sind das die ersten Anzeichen von Alzheimer?“

Glaubt man Berichten in Zeitungen, Zeitschriften, im Internet und im Fernsehen, können spezielle Demenztests nicht nur schnell und zuverlässig für „Gewissheit“ sorgen. Je früher die Diagnose da sei, heißt es, desto eher ließen sich auch Maßnahmen ergreifen, um den Verfall des Geistes zu bremsen. Was läge da also näher, als bei den ersten Anzeichen von Vergesslichkeit zum Arzt zu gehen und das eigene Gehirn per Demenztest prüfen zu lassen?

Keine Frage: Gedächtnisstörungen, Verwirrtheit, auffällige Veränderungen im Verhalten oder gar Halluzinationen sind ernstzunehmende Hinweise darauf, dass ein gesundheitliches Problem vorliegt. Richtig ist auch, dass sich Betroffene so bald wie möglich fachärztlich untersuchen lassen sollten. Entscheidend ist jedoch, was dann an Diagnostik folgt.

Zu den häufigsten Testverfahren, die Mediziner bei Verdacht auf Demenz einsetzen, gehören der Mini-Mental-Status-Test (MMST), der DemTect und auch der Uhren-Test. Das hat einen einfachen Grund. Alle drei Tests sind leicht und schnell durchzuführen, erfordern keinen teuren Gerätepark und werden ohne weiteres von den gesetzlichen Krankenversicherungen erstattet. Arzt oder Ärztin müssen die Tests nicht einmal selbst vornehmen, meist erledigen das ihre Mitarbeiter. Zudem vermittelt ein solcher Test das Gefühl von Wissenschaftlichkeit und Verlässlichkeit. Schließlich steht am Ende als Resultat eine konkrete Zahl schwarz auf weiß.

Der Haken daran: Mit keinem einzigen dieser Verfahren lässt sich wirklich feststellen, ob ein Mensch Demenz hat oder nicht. Entscheidend für die Diagnose ist nämlich nicht, wie stark das Erinnerungsvermögen, die Denkfähigkeit und das Verhalten beeinträchtigt oder verändert sind. Maßgeblich für eine Demenz ist, ob bestimmte Funktionen des Gehirns unwiederbringlich verloren sind, weil Teile des Organs irreparabel geschädigt sind. Nachgewiesen als häufige Ursachen für Demenz sind irreversible Schädigungen des Gehirns durch Schlaganfälle, Hirnverletzungen, Sauerstoffmangel und chronische Vergiftungen, insbesondere durch Alkohol oder Drogen, aber auch durch Medikamente, Lösungsmittel oder Pestizide. Unklar ist dagegen nach wie vor, ob die Alzheimer-Krankheit („Morbus Alzheimer“) als Ursache für Demenz eine Rolle spielt – und wenn ja, welche. Tatsächlich ist Alzheimer bisher weder wissenschaftlich klar definiert noch klar nachweisbar.

Tückisch an der Diagnose Demenz ist vor allem, dass auch zahlreiche Erkrankungen, verschiedene Mangelzustände sowie die Folgen diverser medizinischer Therapien eine Demenz vortäuschen können – obwohl das Gehirn intakt ist und die Beschwerden behebbar und reversibel sind.

Viele Ursachen möglich

Verwechselungsgefahr besteht zum Beispiel beim sogenannten Altershirndruck. Dabei handelt es sich um einen Stau des Hirnwassers, der oft über Jahre schleichend entsteht. Typische Symptome sind ein unsicherer Gang mit Trippelschritten, Blasenschwäche sowie Gedächtnisstörungen und ein nachlassendes Denkvermögen. Wird das Problem frühzeitig behandelt, verschwinden die Symptome in der Regel innerhalb weniger Tage komplett. Übrigens ist der erhöhte Hirndruck nicht immer im Computer-Tomogramm (CT) zu erkennen.

Vermeintliche „Demenz-Symptome“ können auch die Folge von Durchblutungsstörungen oder Natriummangel sein, von Nierenschäden oder Hormonmangel, akuten Infektionen oder einer Hirnblutung nach einem scheinbar harmlosen Sturz. Inzwischen kennt man rund 50 Erkrankungen, die Vergesslichkeit, Verwirrtheit und andere Hirnleistungsstörungen hervorrufen können.

Auch mehr als 130 häufig verordnete Arzneimittel können als Nebenwirkung kognitive Beeinträchtigungen verursachen (GPSP 4/2007, S. 11). Die meisten dieser Mittel sind keineswegs „Exoten“, sondern oft verschriebene Medikamente wie Cholesterinsenker und Magensäureblocker, Mittel gegen Bluthochdruck, gegen Osteoporose und gegen Schmerzen, Antidepressiva sowie starke Schlaf- und Beruhigungsmittel, insbesondere solche, die schnell abhängig machen, wie etwa Valium®, Adumbran® oder Tavor®. Für jedes der mehr als 130 Präparate gilt: Schon als einzelnes Medikament können die enthaltenen Wirkstoffe Probleme machen. Die Gefahr steigt, wenn jemand gleichzeitig andere Mittel einnimmt oder wenn die Dosis des Medikaments nicht an die im Alter nachlassende Nierenfunktion angepasst wird.

Risiko Operation

Häufig handelt es sich bei einer vermeintlichen Demenz auch um eine Reaktion des Körpers auf eine Operation unter Narkose. Rund die Hälfte aller Menschen über 65 Jahre, die sich einem chirurgischen Eingriff unterziehen und vorher geistig gesund waren, entwickelt danach einen akuten Verwirrtheitszustand, ein sogenanntes postoperatives Delir.1,2 Auf den ersten Blick sind die Symptome nicht von denen einer schweren Demenz zu unterscheiden. Die Betroffenen sind verwirrt, halluzinieren oder bekommen ohne erkennbaren Grund Panik oder Angstzustände.

Die behandelnden Ärzte stehen dann oft vor einem Problem. Für eine gründliche Diagnostik ist kaum Zeit, und für eine intensive Betreuung fehlt häufig Personal. Damit die Patienten sich nicht verletzen, werden sie mit Medikamenten ruhiggestellt oder sogar mit Gurten fixiert. Dabei können solche Arzneimittel ein Delir noch verstärken. Allerdings kann man den Betroffenen mit anderen Maßnahmen relativ leicht helfen, indem speziell geschultes Personal sich während und nach der Operation intensiv um sie kümmert, Hörgeräte rasch wieder anlegt, Brillen aufsetzt und die Patienten zu Aktivitäten anregt und sie mobilisiert. Das ist jedoch nicht immer der Fall. Wird der Patient dann wenige Tage nach dem Eingriff entlassen, weil die eigentliche Behandlung abgeschlossen ist, und ist der Betroffene dann immer noch verwirrt und desorientiert, wird im Arztbrief manchmal die Diagnose „Demenz“ notiert. Ein Fehler.

Liegt dieser Befund erst einmal vor, wird er auch vom Hausarzt nur selten revidiert. Im Gegenteil. Hausärzte stellen selbst häufig vorschnell die Diagnose Demenz, wie eine 2009 veröffentlichte Studie belegt.3 So finden sich in der Krankenakte vieler älteren Menschen Vermerke wie „V. a. Demenz“ (V. a. = Verdacht auf) oder „Demenz a. e. vom Alzheimer-Typ“ (a. e. = am ehesten).

Klare Vorgaben für die Diagnose

Vielen Medizinern ist offenbar nicht bewusst, dass für die Diagnose einer Demenz strenge Regeln gelten und eine ganze Reihe von Untersuchungen nötig ist. Eine dieser Regeln ist, dass die Symptome über mindestens sechs Monate bestanden haben müssen. So steht es in der international gültigen, offiziellen Definition von Demenz4 und in der aktuellen Leitlinie Demenzen5, an die sich jeder Arzt und jede Ärztin orientieren sollte. Aus der Leitlinie geht auch hervor, dass die Diagnose einer Demenz eine sogenannte Ausschlussdiagnose ist. Das bedeutet, dass zunächst eine Vielzahl von anderen möglichen Erkrankungen, bei denen ähnliche Symptome wie bei einer Demenz auftreten können, ausgeschlossen werden müssen.

Um voreilige und falsche Diagnosen zu verhindern, müssen Ärzte daher bei Verdacht auf Demenz erst einmal gründliche Detektivarbeit leisten. Dazu gehört zum einen, dass der Arzt den Betroffenen oder (falls dieser zu stark beeinträchtigt ist) seine Angehörigen nach der Krankengeschichte, den eigenommenen Medikamenten, den aktuellen Lebensumständen, vor kurzem erlittenen Unfällen oder Verletzungen sowie nach psychischen belastenden Ereignissen wie etwa den Verlust des Partners oder Konflikten in der Familie befragen muss. Denn all das kann kognitive Störungen auslösen.

Grundlage der Diagnostik sind zum anderen gründliche körperliche Untersuchungen – sowohl durch einen Nervenarzt als auch durch einen Internisten. Hinzu kommt die Bestimmung zahlreicher Laborwerte, um beispielsweise Störungen der Nieren- oder Leberfunktion zu erkennen. Auf diese Weise können bereits viele Ursachen für geistige (kognitive) Störungen erkannt und behoben werden.

Risiko Fehldiagnose

Die Realität sieht anders aus. Kaum ein Patient, so haben Studien5 gezeigt, wird anhand der strengen klinischen Kriterien untersucht. Stattdessen erhalten viele vorschnell und fälschlicherweise die Diagnose Demenz.
Die Folgen für die Patienten sind zum Teil fatal, denn oftmals verschreiben die behandelnden Ärzte aufgrund eines „positiven“ Testergebnisses gleich eines der vier Medikamente, die zur Behandlung der sogenannten Alzheimer-Demenz auf dem Markt sind (Donepezil, Galantamin, Rivastigmin, Memantin). Keines dieser Medikamente kann das Fortschreiten einer Demenz bremsen oder stoppen, geschweige denn einen Verfall des Gehirns heilen.6 Stattdessen haben sie mitunter erhebliche Nebenwirkungen, darunter Wahnvorstellungen, Angstzustände, aggressives Verhalten, Krampfanfälle oder Harninkontinenz.7 Mehr noch: Durch voreilige Demenzdiagnosen stellen Ärzte häufig die Suche nach anderen möglichen Ursachen ein. Statt die wahren Auslöser von Gedächtnisstörungen und Verwirrtheit zu beheben, bleiben diese bestehen. Die Patienten leiden unnötig.

Diagnoseverfahren bei Verdacht auf Demenz

Neuropsychologische Tests und kognitive Kurz-Tests dienen der Beurteilung der aktuellen geistigen (kognitiven) Fähigkeiten. Am häufigsten eingesetzt werden der Mini-Mental-Status-Test, der DemTect und der Uhren-Test, und Ziel dieser Verfahren ist es herauszufinden, ob der Patient unter kognitiven Leistungseinbußen leidet, und wenn ja, welche Hirnfunktionen beeinträchtigt sind und wie stark. Aber: Ein schlechtes Testergebnis ist kein Beweis für eine Demenz. Denn es gibt viele Ursachen, die dazu führen können, dass ein Patient im Test „versagt“. Allein die Prüfungssituation, in der man sich dabei befindet, setzt viele Menschen unter Stress. Stress aber hemmt die Informationsverarbeitung im Gehirn und blockiert so das Denken und das Gedächtnis. Auch Störfaktoren wie sedierende Medikamente oder die Folgen eines nicht erkannten Schlaganfalls können zu einem schlechten Ergebnis führen: Wenn zum Beispiel die räumliche Wahrnehmung beeinträchtigt ist, können Betroffene die Uhrzeit nicht mehr richtig entziffern.

Bildgebende Verfahren: Eine Untersuchung des Gehirns per Computertomografie (CT) oder Magnetresonanztomografie (MRT) kann sinnvoll und wichtig sein, um behandelbare und möglicherweise sogar bedrohliche Ursachen für kognitive Störungen zu erkennen. Ärzte können auf diese Weise etwa feststellen, ob die Beschwerden durch einen Hirntumor oder eine Hirnblutung hervorgerufen werden. Zudem lassen sich Schlaganfälle und bestimmte Arten von Durchblutungsstörungen sichtbar machen.

Manche Mediziner behaupten allerdings, dass sich auch eine Demenz per MRT diagnostizieren lasse. Als charakteristisch gilt unter anderem eine Schrumpfung des Gehirns (Atrophie), insbesondere im Hippocampus, einem Hirnbereich, der für die Gedächtnisbildung zuständig ist.5 Zuverlässige Belege dafür gibt es jedoch nicht.

Neuerdings propagieren einige Ärzte auch eine Untersuchung des Gehirns per Positronen-Emissions-Tomografie (PET). Dafür spritzt der Arzt dem Patienten eine radioaktiv markierte Substanz (Tracer) in eine Vene. Mithilfe einer PET lassen sich zum Beispiel Tumore sichtbar machen, weil sich die Tracer in Krebszellen besonders stark anreichern. Es gibt auch Tracer, die an sogenannte Amyloid-Ablagerungen binden. Sie gelten als Merkmal der Alzheimer-Krankheit. Damit, so behaupten Forscher, könne man das rätselhafte Leiden sogar Jahre vor Ausbruch der Symptome diagnostizieren.8,9,10,11 Auch diese Aussage hält einer Überprüfung der wissenschaftlichen Literatur nicht stand.5

Untersuchung des Nervenwassers (Liquordiagnostik): Seit einigen Jahren propagieren einige Mediziner, im Nervenwasser nach Anzeichen der Alzheimer-Krankheit zu fahnden. Dazu punktieren Ärzte den Rückenmarkskanal mit einer feinen Nadel auf Höhe der Lendenwirbelsäule und entnehmen so einige Milliliter Nervenwasser (Liquor), die dann im Labor untersucht werden. Das Verfahren wird üblicherweise zur Diagnose entzündlicher Gehirnerkrankungen wie Meningitis oder Enzephalitis angewandt, die sich nicht allein anhand einer Blutuntersuchung erkennen lassen.

Angeblich kann die Alzheimer-Krankheit anhand der Konzentration bestimmter Eiweiße (Amyloid-Protein und Tau-Protein) im Nervenwasser schon erkannt werden, bevor eine Demenz vorliegt. Dafür gibt allerdings bis heute keinen zuverlässigen Beweis.

Fazit

Demenz ist ein komplexes Krankheitsbild, das nur nach sorgfältiger Untersuchung diagnostiziert werden sollte. Kurztests wir der MMST oder der Uhren-Test sind lediglich eine Momentaufnahme. Sie sagen nichts über die Ursachen aus, geben nur erste Anhaltspunkte und reichen keinesfalls alleine zur Diagnose.

 

Dieser Artikel wurde am 3.9.2018 korrigiert

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– Gute Pillen – Schlechte Pillen 02/2018 / S.06