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Je schneller, desto besser?

Wem eine vereinfachte Zulassung von neuen Arzneimitteln nützt, ist fraglich

Die Europäische Arzneimittelzulassungsbehörde (EMA) plant, künftig Arzneimittel noch schneller für den Markt zuzulassen. Verfechter dieser Idee betonen, dass das den Bedürfnissen von Patienten und Patientinnen entgegenkomme. Kritische Stimmen warnen vor unkalkulierbaren Risiken.1,2 Denn die vorgezogene Zulassung geschieht auf knapper Wissensbasis. Wir fragten Teresa Leonardo Alves, warum die Expresszulassung –  „Adaptive Pathways“ genannt (siehe Kasten S. 20) – bei verbrauchernahen Verbänden nicht gut ankommt.

GPSP: Warum sind verbrauchernahe Organisationen über die aktuellen Pläne zur beschleunigten Arzneimittelzulassung in der EU nicht glücklich?

Teresa Alves: Wir sind dafür, dass Patienten neue Arzneimittel, die ihnen wirklich Vorteile bieten, so schnell wie möglich erhalten. Aber es gibt berechtigte Bedenken, dass die geplante Beschleunigung Patienten unwirksamen oder gefährlichen Medikamenten aussetzen würde. Zwei Dinge muss man sich klar machen: Erstens tendieren Zulassungsbeamte schon jetzt dazu, die Sicherheitsanforderungen an neue Arzneimittel herunterzuschrauben. Zweitens haben wir reichlich Belege aus den USA und Kanada, dass solche beschleunigten Zulassungen häufig, manchmal früher, manchmal später zu Warnhinweisen, zu Anwendungseinschränkungen oder gar Verboten führen.

Welches Interesse hat die Industrie dabei eigentlich?

Eine schnellere Zulassung mit einem schmaleren Dossier – also auf Grundlage von weniger Daten – ist für die Firmen sehr attraktiv. Es reichen kleinere und kürzere klinische Studien. Das spart eine Menge Geld. Und je früher sie ein Medikament auf den Markt bringen, umso länger dauert der Patentschutz, der dem Hersteller hohe Preise sichert. Einige dieser Medikamente gelten zudem als Orphan drugs, wodurch Firmen zusätzliche Vor­teile genießen. Etwa dass kein Konkurrenzprodukt mit gleicher Wirkweise auf den Markt kommen darf. Und preiswerte Generika von Orphan drugs dürfen erst später produziert werden als Generika anderer Medikamente.

Aber Patienten hoffen auf neue Medikamente, besonders wenn sie schwer erkrankt sind, etwa an Krebs.

Gesundheitsversorgung ist ein Grundrecht. Auch der Zugang zu wirksamen Medikamenten gehört dazu. Das gilt besonders, wenn jemand in einer bedrohlichen Lage ist und es bislang keine wirksame Behandlung für ihn oder für sie gibt. Aber wir müssen gemeinsam überlegen, was wirklich zählt: Sind wir tatsächlich bereit, einen Zulassungsprozess zu akzeptieren, der auf bloßen Versprechungen beruht, statt auf soliden Fakten? Ist es nicht eher in unserem Interesse, dass nur Arzneimittel zugelassen werden, von denen wir einigermaßen genau wissen, dass sie wirksam und sicher sind? Bereits jetzt werden aufgrund von gesetzlichen Sonderregeln Arzneimittel diesseits und jenseits des Atlantiks beschleunigt zugelassen. Wenn wir die Produkte genauer anschauen, fällt auf, dass nur wenige für das Leben oder Wohlergehen wirklich einen Unterschied bedeuten. Wir sollten uns stets bewusst sein, dass die möglichen Vorteile von neuen Medikamenten – sie mögen noch so vielversprechend sein – mit möglichen Schäden einhergehen.

Aber verschwinden zu riskante Arzneimittel nicht zügig wieder vom Markt?

Die Tatsachen legen eher das Gegenteil nahe. Selbst bei krassen Problemen brauchen die Zulassungsbehörden oft viel zu lang, bevor sie handeln. Der Schlankmacher Rimonabant brachte Menschen dazu, sich umzubringen – es dauerte zwei Jahre, bevor er verboten wurde. Und das Diabetesmedikament Rosiglitazon verursachte Herzinfarkte, statt sie zu verhindern. Es ver­schwand erst nach zehn Jahren vom Markt, obwohl es bereits bei der Zulassung Anzeichen für Herz-Kreislauf-Probleme gab.

Warum ist denn ein Verbot so schwierig?

Weil die Beweislast nach der Zulassung umgekehrt ist. Vor der Zulassung muss der Hersteller mit klinischen Studien nachweisen, dass sein Medikament wirkt und sicher genug ist. Aber nach der Zulassung haben Hersteller kein Interesse mehr, Studien durchzuführen. Es könnte ja herauskommen, dass ihr Mittel schlechter wirksam ist als das der Konkurrenz oder dass es gar unvertretbare Risiken birgt. Deshalb müssen die Behörden die entsprechenden Daten explizit vom Hersteller verlangen oder selber sammeln. Was schwierig ist und sehr lange dauern kann. Mitunter sind auch Patientenorganisationen gegen ein Verbot, obwohl klare Belege für Schäden durch das Medikament vorliegen. Solcher Widerstand regt sich vor allem, wenn die Organisation vom betroffenen Hersteller finanziell unterstützt wird.

Was spricht noch gegen eine vorgezogene Zulassung?

Wenn das Express-Verfahren kommt, lässt sich wohl kaum noch verhindern, dass es zum Standard für alle Medikamente wird. Viele Akteure, die Aktien mit im Spiel haben, fragen bereits jetzt, warum man die Idee, die angeblich für Krankheiten er­dacht wurde, für die gute Medikamente fehlen, nicht gleich auf alle Zulassungen anwenden kann. Außerdem lässt sich kaum verhindern, dass ein solches Medikament breit verschrieben wird,
obwohl es nur für eine kleine Patientengruppe zugelassen ist. Der Off-label-Gebrauch von Arzneimitteln, also ihre Anwendung bei einer Erkrankung, für die sie gar nicht zugelassen wurden, ist heutzutage zwar verbreitet, aber ein problematisches Phänomen. Ärzte davon abzuhalten, ein Medikament mit vorgezogener Zulassung auch anderen Patienten zu verschreiben, wäre faktisch unmöglich. Und da diese Mittel ein besonders hohes Risikopotenzial haben, wäre das besonders bedenklich.

Warum? Werden die Behörden geringere Anforderungen stellen als derzeit?

Bei vorgezogener Zulassung darf das Medikament schon ohne solides Wissen um seinen Nutzen und Schaden vermarktet werden. Sie könnten dem Hersteller gestatten, eine Studie nur mit sehr wenigen Patienten durchzuführen und sich damit zu begnügen, Veränderungen von Laborwerten (wie Blutzucker) zu messen, die vielleicht gar nicht viel über den tatsächlichen Behandlungserfolg aussagen. Auch mag durch ein Krebsmedikament der Tumor schneller schrumpfen, das heißt aber nicht unbedingt, dass der Patient oder die Patientin auch länger lebt. Kleine und kurze Studien sind methodisch unzuverlässig.

Patienten könnten künftig ein neues Medikament bekommen, ohne dass dessen Nutzen gründlich bewertet ist?

Stimmt. Wichtige Informationen würden erst nachträglich gesammelt, wenn das Mittel bereits mehr Patienten verschrieben wurde und möglicherweise etliche Schaden genommen haben.

Aber ist es nicht eine gute Idee, ein Medikament erst an einigen Personen auszuprobieren, bevor man es viel verordnet? Besonders wenn Behandlungsmöglichkeiten fehlen?

Genau das passiert ja normalerweise in den bislang vorgeschriebenen klinischen Studien. Im Gegensatz zu Registerstudien, die künftig eine große Rolle spielen sollen, werden klinische Studien gut kontrolliert gemacht und sie führen zu verlässlichen Ergebnissen. Das wäre also für Patienten, für die es sonst keine Behandlungsoptionen gibt, der sinnvollere Weg, neue Medikamente bereits vor der Zulassung zu erhalten.

Außerdem existieren bereits mehrere rechtlich abgesicherte Wege, einzelnen Patienten zu helfen. Dazu gehört bei lebensbedrohlich Erkrankten eine Therapie mit noch nicht zugelassenen Medikamenten – sozusagen aus Mitgefühl (compassionate use) –, wenn Ärzte nichts Anderes in der Hand haben. Hinzu kommen mehrere gesetzliche Regelungen, um Arzneimittel schneller als üblich zuzulassen, wenn ein besonderer medizinischer Bedarf besteht. Es wäre sinnvoll, zunächst einmal auszuwerten, ob diese Sonderregeln ihren Zweck erfüllen, um sie eventuell zu verbessern.

Welche Interessen stecken hinter der vorgezogenen Zulassung?

Das Ganze folgt eindeutig Industrieinteressen: Größere Gewinne zu einem früheren Zeitpunkt als bislang werden so möglich. Und das alles in einem bequemen Verfahren, das eine frühe behördliche Zulassung und Erstattung durch die Kassen auf einen Rutsch ermöglicht. Deshalb sollen auch Hersteller, Zulassungsbehörde, HTA-Agenturen, Kostenträger und Patienten frühzeitig mit am Tisch sitzen, um über die Wirkstoffe zu diskutieren. Ich habe alle öffentlich zugänglichen Informationen zu diesem Projekt durchgeforstet und erkenne nicht, wie es der Gesundheit von Patientinnen und Patienten dienen soll.

Also gut für die Firmen und schlecht für kranke Menschen?

Das ist leider allzu wahrscheinlich. Was passiert, wenn ein Patient durch ein vorgezogen zugelassenes Präparat geschädigt wird – sei es während der klinischen Studien oder nach der Zulassung? Können Patienten Schadensersatz fordern? Wie wird ihre Zustimmung zur Studienteilnahme eingeholt, ohne dass Hersteller Nutzen aus ihrer verzweifelten Lage ziehen? Ohne überzeugende Antworten auf diese Fragen, bleibt eigentlich nur der Schluss, dass das Ganze auf dem Rücken von Patienten und den behandelnden Ärzten ausgetragen wird. Bereits jetzt tragen vor allem Patienten die Folgen, wenn etwas schiefgeht. Und die Gesellschaft trägt Kosten der Schäden, von Klinikaufenthalten und längerer Krankheit bis hin zum Tod. Sollen wir jetzt noch die zusätzlichen Risiken tragen, die durch solche schlecht geprüften Produkte entstehen?

Wenn das alles so eine schlechte Idee ist, warum unterstützen EMA und EU-Kommission das Ganze?

Das ist eine sehr wichtige Frage, die ich der Kommission selbst gestellt habe. Sie haben mir gesagt, die EMA dürfe aus eigener Initiative Projekte anstoßen und durchführen. Weil das Ganze als Pilotprojekt etikettiert wird, sieht die EU-Kommission es nicht als in Stein gemeißelt an und wartet auf Ergebnisse aus dem Projekt. Auch die Öffentlichkeit wartet gespannt auf die Ergebnisse dieser „Idee“. Die Entwicklung und Umsetzung findet hinter verschlossenen Türen statt und die EMA informiert und beteiligt nur handverlesene Akteure nach eigenem Gutdünken. Selbst das Europäische Parlament wurde bislang an den Diskussionen nicht beteiligt, und es gab keine einzige öffentliche Anhörung. Intransparenz ist das herausragende Merkmal dieses Projekts, das angeblich patientenzentriert ist, aber die bestehende Arzneimittelzulassung nachhaltig schwächen könnte. Es ist sicherlich kein Zufall, dass die ganze Idee in einer industriefinanzierten US-Denkfabrik am MIT ausgedacht wurde (siehe Kasten S. 20).

Frau Alves, Danke für Ihre kritischen Anmerkungen.

Das Interview wurde von der GPSP-Redaktion aus dem Englischen übersetzt.

 

 

Orphan drugs
GPSP 5/2015, S. 11

Rimonabant
GPSP 3/2015, S. 7

Rosiglitazon
GPSP 4/2010, S. 3 GPSP 5/2010, S. 14

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– Gute Pillen – Schlechte Pillen 04/2016 / S.19