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© mumininan – istockphoto.com

Per Gesetz durchgewunken

Wer an einer seltenen Krankheit leidet, ist vor unsinnigen Medikamenten schlechter geschützt

Neue Arzneimittel werden in Deutschland auf ihren Nutzen für Patienten geprüft. Aber es gibt Ausnahmen: Bei seltenen Erkrankungen steht das Ergebnis der Bewertung praktisch vorab fest. Der Bundestag hat nämlich 2010 beschlossen, dass bei solchen „Waisenmedikamenten“ der Zusatznutzen per Gesetz als belegt gilt. Das hat mitunter absurde Folgen, wie der Fall Glybera® zeigt.

Seit 2011 prüft der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) als deutsche Kontrollinstanz bei jedem neuen Medikament, ob es wirklich von Vorteil ist: Leben Patienten länger? Werden sie schneller gesund? Wird ihre Krankheit erträglicher? Oder gibt es weniger unerwünschte Wirkungen? Bei inzwischen über 100 solcher Bewertungen hat sich gezeigt, dass jede zweite „Innovation“ den Patienten gar keine relevanten Vorteile bringt. Der G-BA trennt damit die Spreu vom Weizen und spart den Krankenversicherten viel Geld.

Als in Deutschland 2010 das Gesetz zur Nutzenbewertung diskutiert wurde, schafften es die Lobbyisten der Pharmabranche, eine profitable Klausel in den Entwurf zu schmuggeln: Waisenmedikamente sollten von der Nutzenbewertung durch den G-BA ausgenommen werden.

Nach heftigen Protesten von Fachwelt und Verbraucherschützern wurde folgender Kompromiss beschlossen: Solange ein Waisenmedikament weniger als 50 Millionen € Umsatz pro Jahr erzielt, gilt sein Zusatznutzen als belegt und der G-BA darf nur dessen Ausmaß bestimmen. Nur wenn der Umsatz höher ist, findet eine echte Bewertung statt.

Schlecht geprüft

Waisenmedikamente werden von der Europäischen Arzneimittel-Zulassungsbehörde EMA für die gesamte EU zugelassen. Dabei gelten weit geringere Anforderungen als bei anderen Arzneimitteln. Zudem sind die EMA-Anforderungen sehr weich formuliert und damit für Missbrauch offen. Eigentlich soll ein Waisenmedikament eine Behandlungslücke schließen. Aber die Behörde prüft nicht eingehend, ob das Medikament diese Lücke tatsächlich schließt.

Problematisch ist auch die Definition von „selten“. Fünf von 10.000 Bürgern scheint auf den ersten Blick wenig. Es bedeutet aber, dass allein in der EU bis zu 250.000 Patienten und Patientinnen an einer einzigen dieser „seltenen“ Erkrankung leiden können. Das kann ein lohnender Markt sein, zumal die EMA zehn Jahre Vertriebsexklusivität garantiert. Kein Konkurrent kann ein Medikament für die gleiche Krankheit auf den Markt bringen. Einzige Ausnahme: Er kann belegen, dass es besser ist.

G-BA in der Zange

Der G-BA hat in den letzten Jahren einige Waisenmedikamente bewerten müssen. Da der Gesetzgeber das positive Ergebnis diktiert hat, geht es dabei lediglich um das Ausmaß des Zusatznutzens: „gering“, „beträchtlich“ oder „erheblich“. Tatsächlich liegen für Medikamente gegen seltene Krankheiten in der Regel nur wenige Daten aus klinischen Studien vor. Und diese zeigen oft nur Änderungen von Messwerten im Blut der Erkrankten, aber nicht, ob es den Patienten wirklich besser geht.

Da in diesem Fall laut Gesetz weder die Noten „ein Zusatznutzen ist nicht belegt“ oder gar „geringerer Nutzen“ vergeben werden dürfen, flüchtet sich der G-BA nicht selten in die Kategorie „nicht quantifizierbarer Zusatznutzen“. Eigentlich ist diese Bewertung für Situationen vorgesehen, in denen das neue Mittel zwar irgendwie besser erscheint, aber die Daten des Herstellers so schlecht sind, dass keine genauere Festlegung möglich ist, um wie viel es besser ist.

Glybera: Nutzlos?

Kürzlich stand wieder ein Waisenmedikament zur Bewertung an: Glybera®, das eine seltene genetisch bedingte Störung des Fettstoffwechsels beheben soll. Als Therapieziel sah der Hersteller lediglich vor, dass sich die bei dieser Krankheit erhöhte Konzentration bestimmter Blutfette (Triglyzeride) verringert. Diese Laborwerte sinken zwar anfangs, unterscheiden sich nach einem Jahr Behandlung aber nicht mehr von den Werten, die der Patient oder die Patientin vorher hatte.

Um doch noch einen Nutzen zu finden, hat die Firma nachträglich ausgewertet, ob bei den Patienten Entzündungen der Bauchspeicheldrüse seltener vorkommen – was bei dieser Krankheit ein häufiges Begleitsymptom ist. Hier ergab sich jedoch kein klares Bild, so dass die Bewertung des G-BA korrekterweise gelautet hätte: „kein Zusatznutzen“. Doch das war per Gesetz verboten.

Gesunde Aktionäre

Der Hersteller informierte den G-BA wenige Tage vor dessen Entscheidung über Glybera®, dass er der US-Börsenaufsicht eine Meldung gemacht hatte. In dieser Warnung an die Aktionäre zu ihren Investitionsrisiken stand Folgendes: Der zuständige Berichterstatter der europäischen Zulassungsbehörde EMA ist zu dem Schluss gekommen, dass Glybera® unwirksam ist – und zwar nach Auswertung weiterer vom Hersteller eingeforderter Daten.

Der Skandal: Die Aktionäre erfuhren fast eine Woche früher als der G-BA, dass das Medikament wohl nichts taugt.2 Darum vertagte der G-BA als deutsche Kontrollinstanz seine Entscheidung, obwohl er hierdurch erstmals eine gesetzlich vorgegebene Frist zur Nutzenbewertung nicht einhielt.

Last but not least: Die EMA entschied wenige Tage später nicht über die Zulassung, sondern gab dem Hersteller von Glybera® erneut eine Gnadenfrist. Er darf nochmals weitere Daten nachreichen.

Und der G-BA? Er musste dem Mittel zwangsweise einen „nicht quantifizierbaren Zusatznutzen“ bescheinigen, obwohl das eigentlich nicht begründet ist. Er verband seinen auf ein Jahr befristeten Beschluss aber mit dem deutlichen Hinweis, dass hier inhaltlich wider besseren Wissens entschieden werden musste.3

Der Gesetzgeber ist gefordert, den unsinnigen „bis 50 Millionen  Euro Freibrief“ für Waisenmedikamente ganz abzuschaffen. Auch Patienten und Patientinnen mit seltenen Erkrankungen haben ein Recht zu erfahren, ob und wie viel ihnen neue Medikamente wirklich nützen. Unerwünschte Wirkungen haben sie alle.

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– Gute Pillen – Schlechte Pillen 05/2015 / S.11