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© Fred Benenson

Warum „neu“ nicht immer „besser“ ist

Was bringen die neuen Gerinnungshemmer?

Gerne würde GPSP, um der ersten Hälfte seines Namens gerecht zu werden, öfter von „guten Pillen“ berichten. Tatsächlich bieten die neuen Gerinnungshemmer manchmal einen Vorteil, aber die Präparate haben auch den ein oder anderen Pferdefuß.

Von Rivaroxaban (Xarelto®), Apixaban (Eliquis®) und Dagibatran (Pradaxa®) versprechen sich die Hersteller Bayer, Pfizer und Boehringer Ingelheim in den nächsten Jahren weltweit Milliardenumsätze. Die Mittel sollen nach Hüft- und Kniegelenkoperationen Thrombosen vorbeugen und zukünftig die üblichen niedermolekularen Heparine (NMH) wie Clexane® oder Mono-Embolex® ersetzen. Außerdem sollen sie das gute alte Phenprocoumon, vielen bekannt als Marcumar®, bei Patienten mit Vorhofflimmern verdrängen.

Vorteile nach Knie- und Hüft-OP?

In Sachen Thrombosevorbeugung sieht es gar nicht mal so schlecht aus. Bislang werden NMH zwei bis vier Wochen lang nach der Operation ein- oder zweimal täglich unter die Haut gespritzt. Das tut oft mehrere Tage weh und hinterlässt unschöne blaue Flecken. Die neuen Präparate dagegen werden für den gleichen Zeitraum ein- oder zweimal am Tag als Tablette geschluckt. Entsprechende klinische Vergleichsstudien zeigten dieselbe Wirksamkeit wie NMH. Dabei scheint Rivaroxaban unter den drei Substanzen leicht die Nase vorne zu haben, was das Verhältnis von erwünschten und unerwünschten Wirkungen angeht. Langzeitbeobachtungen zur Sicherheit liegen aber noch nicht vor. Wenn das in einigen Jahren der Fall sein sollte, könnten sie in dieser Anwendung vielleicht als echter Fortschritt bezeichnet werden.

Es überrascht allerdings nicht, dass die Hersteller der neuen Gerinnungshemmer von Anfang an zusätzliche Anwendungsbereiche im Auge hatten. Denn mit der kurzen Anwendungsdauer nach Operationen lässt sich nur begrenzt Geld verdienen.

Umsatzträchtige Anwendung

Das ist ganz anders, wenn Menschen jahrelang behandelt werden müssen, wie beim so genannten „Vorhofflimmern“. Bei dieser Rhythmusstörung sind die Herzaktionen unregelmäßig und zwischen Herzvorhöfen und Herzkammern nicht koordiniert, weil die Herzvorhöfe nicht regelmäßig schlagen, sondern flimmern. Das stört Patienten im Regelfall – bis auf gelegentliches Herzstolpern – nur wenig. Doch es kann sich daraus eine tödliche Gefahr entwickeln: Blut, das von den flimmernden Vorhöfen nicht weiterbewegt wird, kann gerinnen und als Klümpchen (Embolus) bis in Hirnarterien gelangen und sie verschließen. Die Folge ist ein Schlaganfall. Daher werden Patienten und Patientinnen mit Vorhofflimmern und bestimmten weiteren Risiken vorbeugend dauerhaft mit gerinnungshemmenden Arzneimitteln behandelt. Der Goldstandard, also die optimale Therapie, ist hierfür seit Jahrzehnten Phenprocoumon. Das Mittel hat einen Nachteil: Ärzte müssen die Dosierung dieses Medikaments für jeden einzelnen Patienten sorgsam einstellen – denn eine zu starke Gerinnungshemmung kann schwere Blutungen auslösen. Bis die richtige Dosis gefunden ist, bedeutet das mehrere Blutabnahmen und auch danach sind regelmäßige Kontrollen nötig – insbesondere dann, wenn weitere Medikamente gebraucht werden oder welche wegfallen.

Blindflug beim Vorhofflimmern

Diese Gerinnungskontrolle sowie die Dosierungsanpassung entfallen bei den drei neuen Substanzen, sie werden in fixer Dosis eingenommen. Das klingt erst einmal wie ein echter Vorteil, hat aber einen mächtigen Pferdefuß:

Während der Arzt bei Phenprocoumon durch die Laborwerte genau weiß, wie es um die Gerinnung bei einem Patienten steht, agiert er bei den drei neuen Substanzen im Blindflug. Es ist nutzlos, den bei Phenprocoumon typischen und einfachen Gerinnungstest zu machen, denn der zeigt die Wirkung bei den drei neuen Mitteln gar nicht an. Für sie sind solche Routinetests bisher nicht verfügbar. Somit steht dem Vorteil der entfallenen lästigen Laborkontrolle der Nachteil der Therapieunsicherheit gegenüber: Bei Unterdosierung ist der Patient zu wenig vor Embolien geschützt, bei Überdosierung drohen gefährliche Blutungen.

Das sehen die Herstellerfirmen erwartungsgemäß nicht so und verweisen auf die Ergebnisse ihrer Zulassungsstudien. Tatsächlich war in diesen Studien bei allen drei neuen Substanzen das Risiko einer Blutung – durch zu starke Gerinnungshemmung – nicht höher als unter Phenprocoumon. Für Apixaban zeigte sich sogar ein günstigeres Verhältnis zwischen der erwünschten Wirkung, also der Verhinderung von Blutgerinnseln, und der unerwünschten Wirkung, also mehr Blutungen als unter Phenprocoumon. Aber auch hier fehlen noch Belege aus Langzeitbeobachtungen.

Ob sich die neuen Substanzen im Alltag bewähren werden – vor allem bei Menschen mit mehr Begleiterkrankungen und mit weniger intensiver ärztlicher Überwachung als in klinischen Studien üblich – bleibt abzuwarten.

Blutungen nicht zu stoppen

Und einen weiteren Pferdefuß gibt es: Kommt es unter dem „alten“ Phenprocoumon zu Blutungen oder muss wegen einer dringenden Operation die Gerinnungshemmung ausnahmsweise schnell aufgehoben werden, können Ärzte mit einem einfachen Vitaminpräparat (Vitamin K) gezielt gegensteuern, um die Blutgerinnung zu unterstützen. Ein solches Gegenmittel (Antidot) fehlt für die drei neuen Substanzen. Ob ihre im Vergleich zu Phenprocoumon kürzere Wirkdauer diesen Nachteil aufhebt, konnte bisher nicht überzeugend nachgewiesen werden.

Teils sehr teuer

Einen dritten Pferdefuß wollen wir nicht verschweigen, die Kosten, die wir nachfolgend auf der Basis der Listenpreise vergleichen. Bei der nur wenige Tage dauerenden Thromboseprophylaxe ist Rivaroxaban 29% preiswerter als das Heparin Enoxaparin, 4,26 € pro Tag statt 6,06 €. Drastisch teurer sind die neuen Gerinnungshemmer jedoch bei der langfristigen Einnahme bei Vorhofflimmern. Hier ist das bewährte Phenprocoumon mit 65 bis 89 € pro Jahr unschlagbar preiswert. Für die neuen Gerinnungshemmer wie Apixaban fallen jährlich rund 1.200 € an, also etwa das 16-Fache.

Somit gerät das Fazit etwas kompliziert: In der zwei- bis vierwöchigen Thromboseprophylaxe nach Hüft- und Kniegelenksersatz haben die neuen oralen Gerinnungshemmer mit den NMH gleichgezogen, bei allerdings deutlich geringeren Langzeiterfahrungen. Für Rivaroxaban liegen hier bisher die besten Studienergebnisse vor. Zwar ist es nicht wirksamer als die NMH, aber Patienten bleiben die Spritzen erspart – zumindest ein Komfortvorteil. Anders sieht es aus für die Vorbeugung von Thromboembolien bei Vorhofflimmern. Aufgrund der offenen Sicherheitsfragen, des fehlenden Antidots zu den neuen Substanzen und angesichts seiner besseren Steuerbarkeit spricht die Studienlage nach wie vor für Phenprocoumon (z. B. Marcumar®). Nur bei einem kleinen Teil der Patienten, bei denen sich keine stabile Gerinnungseinstellung erreichen lässt – obwohl sie regelmäßig ihre Medikamente einnehmen –, sind die neuen oralen Antikoagulantien tatsächlich eine Alternative. Wegen der besten Studienergebnisse kommt hier am ehesten noch Apixaban in Frage.

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– Gute Pillen – Schlechte Pillen 06/2013 / S.04