Wer die Wahl hat
Warum Patienten und Ärzte von evidenzbasierter Medizin profitieren
In der Medizin gibt es meist verschiedene Behandlungsmöglichkeiten. Nicht nur eine. Dies kann die Wahl zwischen mehreren Medikamenten betreffen, die Entscheidung für oder gegen eine Impfung, eine Früherkennungsmaßnahme oder eine Operation. Die Evidenzbasierte Medizin (EbM) bemüht sich, das Pro und Kontra von Behandlungsoptionen zu bewerten. Was das für die Patienten bedeutet, fragte Gute Pillen – Schlechte Pillen den Sozialmediziner David Klemperer.
GPSP: Praktizieren Ärztinnen und Ärzte, die sich am Konzept der Evidenzbasierten Medizin (EbM) orientieren, nach Schema F?
Klemperer: Das ist gerade nicht der Fall! Die EbM sorgt für eine höchst individualisierte Medizin. Evidenzbasiert bedeutet ja vor allem, dass Ärzte ihre Patienten auf der Grundlage nachgewiesener Behandlungsergebnisse – und das ist mit Evidenz gemeint – über verschiedene Optionen in der jeweiligen Krankheitssituation informieren. Dafür brauchen wir hochwertige Studien, die Nutzen und Schaden von Therapiemöglichkeiten zuverlässig vergleichen.
Was ist daran individuell?
Auf der Grundlage dieser Informationen ist es die Aufgabe von Arzt und Patient, herauszufinden was der Einzelne braucht und wünscht. Zum Beispiel, welche unerwünschten Wirkungen ist er oder sie bereit, in Kauf zu nehmen – auch angesichts der Tatsache, dass ein Behandlungserfolg nicht garantiert ist. Jede Therapie hat bekanntlich erwünschte und unerwünschte Wirkungen. Darum lautet eine wichtige Frage: Wiegen die möglichen Vorteile schwerer als die möglichen Nachteile?
Das heißt, Patienten müssen darauf vertrauen, dass ihr Arzt oder ihre Ärztin selbst gut informiert sind. Was bedeutet das konkret?
Sich ständig mit Informationen höchster Qualität auf dem Laufenden zu halten. Bei der Arzneitherapie und anderen Therapien brauchen Ärzte den fairen Vergleich. „Fair“ bedeutet, dass zwei Gruppen von Patienten gebildet werden und eine Gruppe das neue Medikament und die andere als Kontrolle den bisherigen Standard oder ein Plazebo erhält, also eine wirkstofffreie Tablette. Beide Gruppen müssen gleich sein bezüglich aller Merkmale, die sich auf das Behandlungsergebnis auswirken können. Besteht etwa beim Test eines Mittels gegen Seekrankheit eine Gruppe aus Seeleuten und die andere aus Landratten, ist das Ergebnis nicht glaubwürdig: der Test war nicht fair. Der Zufall sorgt für die erforderliche Gleichartigkeit. Deshalb werden die Gruppen durch Zufallszuteilung, also Randomisierung, gebildet. Diese methodisch hochwertigen Untersuchungen nennt man randomisiert und kontrolliert, kurz RCT-Studien.1
Warum reichen die Beobachtungen und Erfahrungen, die jeder Arzt und jede Ärztin mit der Zeit sammeln, als Wissensbasis für eine optimale Behandlung nicht aus?
Die praktischen Erfahrungen der Ärzte sind ganz wichtig. Aber diese Erfahrungen sind wenig dazu geeignet, die Wirksamkeit einer Behandlungsmethode zu beurteilen. Ärzte gelangen hier fast regelhaft zu Fehlurteilen.
Und wie erklären sie die Fehleinschätzungen der Mediziner?
Ärzte wünschen, dass ihre Behandlung hilft und neigen dann dazu, gute Ergebnisse stärker wahrzunehmen als schlechte. Und Patienten sind oft nett und sagen, dass die Behandlung geholfen hat, auch wenn es nicht wirklich stimmt. Oder sie versuchen ihr Glück in einer anderen Praxis. Der Arzt merkt dann nicht, wenn eine Therapie versagt hat. Wie schon gesagt, für die Erfassung von Wirksamkeit und Nutzen brauchen wir den fairen Vergleich.
Hat denn überhaupt jeder Arzt die Zeit, hochwertige aktuelle Studien herauszufiltern und zu lesen?
Das muss er nicht. Heutzutage wird Evidenz aufbereitet, zum Beispiel in Übersichtsarbeiten und Leitlinien. Die zuverlässigen Quellen sollte jede Ärztin und jeder Arzt kennen und nutzen. Leider kann man aber nicht allen Leitlinien vertrauen.
Warum nicht?
Manche Leitlinien sind noch stark von der Industrie beeinflusst. Mehr als die Hälfte der Autoren von US-amerikanischen Leitlinien im Bereich der Kardiologie hatten zum Beispiel Beziehungen zu Unternehmen, deren Umsatz von den Empfehlungen in den Leitlinien abhängt. Der Nachweis, dass Ärzte und Wissenschaftler mit solchen Interessenkonflikten zu verzerrten und fehlerhaften Ergebnissen gelangen, ist vielfach erbracht.
Angenommen, eine Ärztin will ihren Patienten über die evidenzbasierten Therapiemöglichkeiten, die sie in zuverlässigen Leitlinien oder Publikationen2 findet, aufklären. Was muss sie beachten?
Sie muss die Botschaft nachvollziehbar darstellen. Es ist beispielweise besser zu sagen, dieses Präparat wirkt gegen Harnwegsinfektionen bei 80 von 100 Personen als von einer 80prozentigen Wirksamkeit zu sprechen. Wenn das Risiko, an einer Krankheit zu sterben, um die Hälfte verringert wird, klingt das gut – dies kann aber völlig Unterschiedliches bedeuten: Werden 10.000 Menschen behandelt und es sterben 1.000 binnen fünf Jahren, während es in der gleichgroßen Kontrollgruppe 2.000 sind, dann ist das eine relative Minderung des Sterberisikos von 50%. Eine 50%ige Risikoreduktion ist es aber auch, wenn in der Behandlungsgruppe von 10.000 eine Person stirbt und in der gleichgroßen Kontrollgruppe zwei.
Was sollten Ärzte und Patienten noch miteinander besprechen?
Viele Studien berichten über Behandlungserfolge, die für den Patienten irrelevant sind. Ein Beispiel ist das Antidiabetikum Rosiglitazon, das den Blutzuckerspiegel von Diabetikern hervorragend senkt, leider aber auch die Rate von Herzinfarkten erhöht.3 Man muss also immer auch über den möglichen Schaden der Therapie sprechen. Die Blutzuckerspiegelsenkung ist zudem ein Ersatzkriterium, ein Surrogatparameter, wie wir in der Medizin sagen. Wie das Beispiel zeigt, können solche Kriterien völlig in die Irre führen.4
Mit anderen Worten, hier wird in Studien ein Erfolg gefeiert, der für den Patienten gar keiner ist. Das erinnert an die Behandlung unheilbar Krebskranker mit Chemotherapeutika, die zum Teil unerträgliche unerwünschte Wirkungen haben und die
Lebenszeit – wenn überhaupt – nur um wenige Wochen verlängern.5
Ja, der gute Arzt sollte die Auswirkungen auf Lebenszeit und auf Lebensqualität kommunizieren und dann den Patienten bei der Klärung seiner individuellen Präferenzen unterstützen.
Weiß man, ob der gut informierte Patient mehr oder weniger Therapie möchte?
Er entscheidet tendenziell zurückhaltender. Er nimmt eher Abstand von einer Therapie mit geringem Nutzen beziehungsweise mit hohem Risiko.
Werden Patient oder Patientin bei einer derart schwierigen Entscheidung nicht zu sehr allein gelassen?
Parallel zur EbM wurde im angloamerikanischen Raum das Konzept des Shared Decision Making entwickelt. Damit gemeint ist die gemeinsame Entscheidungsfindung von Arzt und Patient. Die sollte immer ein Angebot sein, aber nie eine Pflicht auf Seiten des Kranken. Manchmal fühlen sich Patienten nicht dazu in der Lage und überlassen eine Entscheidung lieber ihrem Arzt. Ärzte müssen ein Gespür dafür entwickeln, wie viel Mitsprache ihr Patient oder ihre Patientin möchte. Auch das gehört zur guten individuellen Behandlung.
Vielen Dank für das informative Gespräch!
Stand: 1. Juni 2011 – Gute Pillen – Schlechte Pillen 03/2011 / S.12