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©Annika_Ucke

Außer Kontrolle

Geschätzt zwei Milliarden Euro geben Bundesdeutsche pro Jahr für Nahrungsergänzungsmittel aus – ­Tendenz etwa um 4% bis 5% jährlich steigend. Das ist eine unvorstellbare Geldverschwendung, da solche Produkte – außer in wenigen Ausnahmesituationen – überflüssig sind. Aktuell teilt dies auch das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) mit.1 Besonders schlimm ist es, dass vielfach potenziell gesundheitsgefährdende gepanschte Nahrungsergänzungsmittel geschluckt werden, die chemische Wirkstoffe enthalten, die verschreibungspflichtig wären, wenn sie als Arzneimittel verkauft würden.

Nahrungsergänzungsmittel sollen Wünsche erfüllen – Wünsche, die oft unrealistisch sind: Abnehmen und dabei weiter essen wie gewohnt. Chronische Erkrankungen heilen, deren Symptome Arzneimittel lediglich lindern können, beispielsweise Arthrose. Oder ein langes Leben ohne altersbedingte Beschwerden.

Die Werbung für Nahrungsergänzungsmittel greift gezielt diese Wünsche und Ängste auf und bedient sie mit wohlklingenden Versprechungen, die jeglicher wissenschaftlicher Belege entbehren. Dabei wird es den Anbietern leicht gemacht, Behauptungen aufzustellen, die für Arzneimittel strafbar wären, da diese relativ strengen behördlichen Auflagen unterliegen. Denn Nahrungsergänzungsmittel gelten als Lebensmittel. Verantwortlich für die werbenden Aussagen ist somit grundsätzlich der Hersteller, Importeur oder Anbieter.

Angesichts des gigantischen Marktes von Nahrungsergänzungsmitteln, die auch per Internetbestellung nach Deutschland gelangen, läuft die Überwachung ins Leere. Die zuständigen Behörden der Bundesländer können – wenn überhaupt – nur einen verschwindend geringen Teil des Angebots stichprobenartig prüfen. Dass die Situation hierzulande praktisch außer Kontrolle ist, kann man daran ablesen, dass fast alle Warnungen vor gepanschten Nahrungsergänzungsmitteln aus dem Ausland zu uns gelangen und nicht etwa von deutschen Überwachungsbehörden.

Anbieter gepanschter Produkte täuschen Verbraucher und Verbraucherinnen oftmals gezielt, etwa indem sie im Namen des Produktes oder auf der Packung das Produkt als „natürlich“ oder „Bio“ bezeichnen. So steht auf der Verpackung von „On Demand“, in dem der Erektionsförderer Sildenafil entdeckt wurde: „All natural libido for Men” und ein Produkt namens Slim Bio Kapseln, das als Abnehmhilfe beworben wird, enthält gleich sechs chemische Arzneistoffe: zwei Erektionsförderer, zwei Appetit­hemmer, von denen einer seit Jahren wegen Herzschädlichkeit als Arzneimittel verboten ist, ein Hustenmittel und ein müde machendes Antiallergikum. Eine solche Mischung, die vermutlich überwiegend von Frauen als Abnehmhilfe gekauft wird, ist gefährlich und kriminell.

In den zwei Monaten seit der letzten Ausgabe von GPSP haben wir 17 weitere illegale Produkte aufgespürt, erneut überwiegend gepanscht mit Erektionsförderern. Im Internet finden Sie Näheres zu weit über 2.000 illegalen Nahrungsergänzungsmitteln. Damit haben Sie bei GPSP Zugriff auf die weltweit umfangreichste öffentlich zugängliche Datenbank zu gepanschten Produkten. Doch auch das entspricht leider nur der Spitze des Eisbergs, weil eine systematische behördliche Überprüfung von Nahrungsergänzungsmitteln fehlt.

Neu gefunden: Mit chemischem Potenzmittel gepanscht

Produkt: auf der Packung nicht deklarierte Stoffe

  • Best Sexual Enjoyment: Sildenafil
  • E-Cialis HelloCig E-Liquid: Sildenafil + Tadalafil
  • E-Rimonabant HelloCig E-Liquid: Sildenafil
  • Golden Ant: Sildenafil
  • Natural V=GRA 9800 mg Kapseln: Sildenafil +Tadalafil
  • Nectar Del Amor: Sildenafil
  • On Demand: Sildenafil
  • Red Stallion Extra Strong: Tadalafil
  • Rhino 5k Kapseln: Sildenafil +Tadalafil
  • Silver Bullet: Sildenafil +Tadalafil
  • Silver Bullet 10x: Sildenafil +Tadalafil
  • Slim Bio Kapseln: Sildenafil +Tadalafil + Sibutramin + Desmethylsibutramin + Benproperin + Diphenhydramin
  • Yong Gang: Sildenafil + Tadalafil

Sildenafil ist der Wirkstoff des Arzneimittels Viagra® (auch in zahlreichen Generika erhältlich). Tadalafil wurde als Arzneimittel zuerst als Cialis® in den Handel gebracht, später auch als Generika. Die Panscherei von Nahrungsergänzungsmitteln mit nicht deklarierten – also verheimlichten – verschreibungspflichtigen Wirkstoffen gegen Erektionsstörungen ist besonders heimtückisch und kriminell. Sie können Verbraucher erheblich gefährden, denn manche Menschen dürfen gerade solche chemischen Erektionsförderer nicht einnehmen. Dazu gehören Herzkranke, die gleichzeitig Nitropräparate wie Isosorbiddinitrat (ISDN) oder ähnliche Arzneimittel gegen Angina pectoris benötigen (GPSP 2/2013, S. 4 – https://gutepillen-schlechtepillen.de/angina-pectoris/). In Kombination mit einem chemischen Erektionsförderer wie Sildenafil kann der Blutdruck lebensbedrohlich abfallen. Vor allem wer aus medizinischen Gründen chemische Erektionsförderer meiden muss, erhofft sich jedoch möglicherweise Hilfe von den als harmlos beworbenen Nahrungsergänzungsmitteln und ist unwissentlich gefährdet, wenn er an ein gepanschtes Produkt gerät.

Die unter dem Namen Slim Bio zur Gewichtsabnahme verkauften Kapseln enthalten gleich sechs verschiedene chemische Wirkstoffe: die beiden erektionsfördernden Mittel Sildenafil und Tadalafil sowie zwei appetithemmende Wirkstoffe, das wegen Herz-Kreislauf-Schädlichkeit schon 2010 aus den Arzneimittelhandel gezogene Sibutramin (siehe unten) sowie N-Desmethylsibutramin, eine Sibutramin-Variante, die nie in einem Arzneimittel im Handel war. Als fünften chemischen Wirkstoff enthält das Produkt mit Benproperin ein wenig gebräuchliches Hustenmittel und schließlich noch Diphenydramin, ein müde machendes Antiallergikum, das deshalb auch bei Schlafstörungen verwendet wird. Eine solche Wirkstoffmischung in einem als „Bio“ benannten Nahrungsergänzungsmittel erachten wir als obskur, nicht nachvollziehbar und vor allem als kriminell.

Mit chemischen Appetithemmer gepanscht

Produkt: auf der Packung nicht deklarierte Stoffe

  • GoLean Detox: Sibutramin + Phenolphthalein
  • Slimina: Sibutramin
  • Slimmer Extreme Thermogenic Formula: Sibutramin + Phenolphthalein
  • Ultra Fit: Sibutramin + N-Desmethylsibutramin

Sibutramin war 1999 bis 2010 als verschreibungspflichtiges Arzneimittel (Reductil®) im Handel. Dann musste es – längst überfällig – weltweit wegen seines Herz-Kreislauf-schädigenden Potenzials aus dem Handel gezogen werden (GPSP 2/2010, Seite 8 – https://gutepillen-schlechtepillen.de/kurz-und-knapp-endlich-sibutramin-reductil-vom-markt/). Sibutramim kann den Blutdruck und die Herzschlagrate erhöhen und gefährdet vor allem Menschen mit koronarer Herzkrankheit (Angina pectoris), Herzrhythmusstörungen oder Schlaganfall in der Vorgeschichte. Es drohen Herzinfarkt, Herzstillstand, Schlaganfall u.a. Wenn gleichzeitig bestimmte andere Medikamente eingenommen werden, sind ebenfalls lebensbedrohliche Folgen möglich.

In GoLean Detox und Slimmer Extreme Thermogenic Formula wurde neben Sibutramin auch das Abführmittel Phenolphthalein entdeckt, das in Arzneimitteln (früher z.B. in Darmol® Abführschokolade) seit vielen Jahren wegen möglicher krebsauslösender Wirkungen nicht mehr im Handel ist. Bei langfristiger Einnahme besteht eine Wahrscheinlichkeit, dass es zu Magen-Darm-Störungen, Herzrhythmusstörungen, Krebs und anderen unerwünschten Wirkungen kommt.

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– Gute Pillen – Schlechte Pillen 02/2019 / S.27