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Die Geschichte eines überflüssigen Medikaments

Die Macht von Werbung und Lobbyismus Aggrenox®:

Wer einen Schlaganfall überstanden hat, kann mit Medikamenten das Risiko eines erneuten Anfalls senken. Zu den bewährten Wirkstoffen gehört ASS. In den letzten Jahren haben Ärzte allerdings immer häufiger das Konkurrenzprodukt Aggrenox® verschrieben – obwohl es rund vierzig Mal so teuer ist, keine Vorteile bietet und bei langfristiger Anwendung Patienten häufiger schädigt als ASS. Trotzdem dauerte es sehr lange, bis die Kassen das Medikament nicht mehr erstatteten – ein Erfolg der Industrielobby.

Das Pharmaunternehmen Boehr­inger Ingelheim brachte 2001 das Präparat Aggrenox® auf den Markt, das Acetylsalicylsäure (ASS) und zusätzlich den Wirkstoff Dipyridamol enthält. Zwar ist Dipyridamol schon länger als Einzelsubstanz auf dem Markt, allerdings wegen gesundheitlicher Risiken umstritten. Die Behauptung, die Kombination beider Wirkstoffe in Agg­renox® sei sinnvoll, wurde von Anfang an bezweifelt.

Aggrenox: Teuer ohne Zusatznutzen

Aggrenox® ist teuer: Derzeit kosten 100 Retardkapseln Aggrenox® 92,57 €, für vergleichbare 100 Tabletten ASS muss man im Durchschnitt 3,20 € zahlen. Ein Zusatznutzen, der diesen enor­men Preisunterschied rechtfertigen könnte, lässt sich seit Jahren nicht finden. Im Gegenteil: Bei der Langzeitanwendung von Aggrenox® kommt es häufiger zu schwerwiegenden Blutungen.1

Dass trotzdem viele Ärzte das teure Aggrenox® verschrieben, war die Folge intensiver Reklame. Die Werbeagentur Marvecs hatte für Boehringer Ingelheim kräftig die Werbetrommel gerührt. Der zuständige Marketingleiter verkündete 2009 in einer Pressemitteilung: „Seit Marvecs uns unterstützt, konnten die Umsätze mit zweistelligen jährlichen Zuwachsraten gesteigert werden.“2 Alleine während einer Kampagne 2008/2009 hat ein 38-köpfiges Werbeteam über 9.000 Ärzten und Ärztinnen einen Besuch abgestattet und sie anschließend nochmals telefonisch kontaktiert.

Zirkus um Nutzenbewertung

Es war höchste Zeit, die Menschen vor unnötigen Schäden zu bewahren und die Kassen vor unnötigen Ausgaben zu schützen. Diese Aufgabe der Nutzenbewertung erfüllt im deutschen Gesundheitssystem vor allem das IQWiG. Das unabhängige Institut urteilte 2011: „Es gibt keinen Beleg dafür, dass die Kombinationsbehandlung mit Dipyridamol + ASS einen Zusatznutzen gegenüber einer Monotherapie mit … ASS oder Clopidogrel … hat. Dem … steht ein Beleg für einen größeren Schaden … gegenüber.“1

Der Gemeinsame Bundesausschusses (G-BA) entschied im Mai 2013, dass die Krankenkassen Aggrenox® nicht mehr erstatten. Aber diesen Beschluss stoppte im Juli 2013 das Bundesministerium für Gesundheit und forderte weitere Erklärungen vom G-BA. Zu dieser Aufforderung kam es infolge einer Intervention des Herstellers beim Ministerium.3

Am 1. April 2014 war es dann endlich so weit: Die Entscheidung, Aggrenox® von der Erstattung auszuschließen, trat in Kraft. Allein 2013 hatte der Verkauf des Präparats 45 Millionen € in die Kasse des Herstellers gespült – zulasten der Krankenkassen.4

Diese Geschichte birgt über die lange Verzögerung hinaus noch einen weiteren Wermutstropfen: Fast zeitgleich wurde per Gesetz die Nutzenbewertung von bereits auf dem Markt befindlichen Arzneimitteln wieder abgeschafft. Grünes Licht also für Pharma­unternehmen, die unnötige und vielleicht riskante Medikamente weiterhin ungebremst bewerben und verkaufen dürfen. Verordnungsausschlüsse wie der von Aggrenox® sind erfreulich, dürften aber auch künftig eher die Ausnahme sein.

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– Gute Pillen – Schlechte Pillen 01/2015 / S.10