Nutzenbewertung von Medikamenten: Mehr Einheitlichkeit in der EU
Warum das Patient:innen nützt, aber noch viele Fragen offen sind
Seit 2018 wurde intensiv um eine einheitliche Bewertung von Medikamenten in der Europäischen Union gestritten. Die Industrie wollte die Latte möglichst niedrig hängen. Unabhängige Stimmen forderten, dass nur eindeutige Vorteile für Patient:innen zählen dürften und pochten auf Transparenz. Anfang des Jahres gab es eine Einigung – aber einiges bleibt unklar.
Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit trat nach fast vierjähriger Diskussion am 11. Januar 2022 die EU-Verordnung zur europäischen Nutzenbewertung in Kraft. Dabei hatte das Vorhaben keinen glücklichen Start: Die ersten Entwürfe der EU-Kommission waren vom Interesse der Pharmafirmen geprägt, ein zentralisiertes europäisches Verfahren mit niedrigen Anforderungen an den Zusatznutzen für neue Medikamente zu etablieren. Vor allem die gründliche Bewertung in Deutschland war den Herstellern ein Dorn im Auge.1
In der Debatte um die EU-Nutzenbewertung spielten sogenannte Surrogat-Endpunkte eine Rolle. Solche Messgrößen, wie Laborwerte oder das Tumorwachstum bei Krebs, gelten als sehr unzuverlässiger Indikator für tatsächliche Vorteile von Therapien. Im Gesetz ist jetzt von „gesundheitsbezogenen Endpunkten“ die Rede, also das was für die Patient:innen zählt: die Senkung der Sterblichkeit, Linderung der Symptome oder Verbesserung der Lebensqualität.
Die letzte Entscheidung um die Erstattungsfähigkeit und den Preis von neuen Medikamenten bleibt nun doch bei den Mitgliedsstaaten.2 Die Auswertung der eingereichten Studien wird aber zentralisiert. Da das Verfahren neu aufgebaut werden muss, gibt es mehrjährige Übergangsfristen.3
Erfreulicherweise gibt es scharfe Regelungen für Interessenkonflikte für alle Personen, die an den Bewertungen beteiligt sind sowie für die Koordinierungsgruppe, die die Verfahren steuern und weiterentwickeln soll. Ob die Transparenz so gut sein wird wie in Deutschland, bleibt abzuwarten. Dass nachträgliche Schwärzungen in Originaldokumenten begründet werden müssen, ist ein erster Schritt.
Ein Schwachpunkt der EU-Verordnung: Sie gibt nur einen groben Rahmen vor, überlässt die Ausgestaltung aber einer Koordinierungsgruppe. Die Kommission kann dann in sogenannten delegierten Akten weitere Regeln festlegen, ohne dass das EU-Parlament zustimmen muss. Das kommt der Industrie entgegen, die „intensiv in die Gespräche zur Implementierung der EU-HTA-Verordnung“ einbezogen werden möchte.4
Es gilt also, das weitere Geschehen aufmerksam zu beobachten. Hoffnung macht, dass hierzulande sowohl das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) als auch der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) an der Pilotphase für die gemeinsamen Bewertungen beteiligt sind. Beide Institutionen haben ein Interesse daran, die in Deutschland geltenden hohen Standards aufrecht zu erhalten.
Stand: 1. Juli 2022 – Gute Pillen – Schlechte Pillen 04/2022 / S.23