Nicht nur Valsartan
Wie sicher sind unsere Arzneimittel?
Die „Geiz-ist-geil“-Mentalität hat sich durchgesetzt, leider auch in weiten Bereichen des Gesundheitswesens. Die Auswirkungen haben hunderttausende Menschen, die auf Arzneimittel angewiesen sind, in den vergangenen Monaten zu spüren bekommen.
Krebsmittel, die in einer Bottroper Apotheke gestreckt wurden und in Griechenland gestohlene Krebsmedikamente, die der Brandenburger Arzneimittelhändler Lunapharm weiterverkaufte: Diese zwei Skandale könnten zum Teil als Folge individueller krimineller Energie abgehandelt werden.
Alarmierend dabei sind jedoch die Versäumnisse von Überwachungsbehörden und Politik. Sie haben enorm dazu beigetragen, dass die kriminellen Aktivitäten Einzelner nicht rasch genug gestoppt wurden – zum Nachteil der Patientinnen und Patienten.
Arzneimittel aus Billiglohnländern
Die Welle von Marktrücknahmen verunreinigter Medikamente, die das Blutdruckmittel Valsartan enthalten, hat allerdings eine größere Dimension. Zwar fällt auch hier Behördenversagen auf, jedoch werden auch beträchtliche andere strukturelle Probleme deutlich: Arzneimittel und deren Bestandteile kommen inzwischen überwiegend aus China oder Indien. Dort können sie von den sogenannten Lohnherstellern wegen der dort bescheidenen Löhne, minimalen Umweltauflagen und geringen behördlichen Vorschriften billig produziert werden. Was das für die Arzneimittelsicherheit in Deutschland und anderen Industrienationen bedeutet, ist bislang viel zu wenig beachtet worden.
Ein Alarmsignal vor zehn Jahren blieb ohne Konsequenzen. Damals mussten weltweit Heparinpräparate (zur Hemmung der Blutgerinnung) zurückgezogen werden. Allein in den USA starben mehr als 80 Patienten, nachdem Lohnhersteller in China Heparin mit billigem Ersatzrohstoff gestreckt hatten. Die erforderliche regelmäßige und konsequente Kontrolle solcher Lohnhersteller in Billiglohnländern durch Behörden aus Europa, den USA oder anderen Industrienationen scheitern bislang an der Vielzahl der Produzenten in diesen Ländern – einschließlich einer unüberschaubaren Zahl von regionalen Zulieferern. Zudem mangelt es an gut ausgebildeten Inspektoren sowie an der Finanzierung solcher Inspektionen.
Krebserregendes Valsartan
Wie schwierig es selbst für Firmen und Behörden in wohlhabenden Industrieländern ist, bei solchen Produktionsbedingungen eine gleichbleibende Qualität von Arzneimitteln sicherzustellen, macht der Valsartan-Skandal deutlich: Allein in Deutschland mussten mehr als 100 Präparate mit dem blutdrucksenkenden Wirkstoff Valsartan aus dem Handel gezogen werden, weil sie mit dem krebsfördernden Nitrosamin Nitrosodimethylamin (NDMA) verunreinigt waren.1,2
Der Hintergrund ist wie bei den Krebsmittelskandalen ein kommerzieller: Der chinesische Lohnhersteller Zhejiang Huahai hat bereits 2012 den Syntheseweg von Valsartan verändert, um die Wirkstoffausbeute zu erhöhen, also noch billiger zu produzieren. Dass dabei NDMA als Nebenprodukt entsteht, wurde in den Abnehmerländern erst in diesem Sommer erkannt. Rund 900.000 Patienten sind hierzulande betroffen, die möglicherweise bis zu sieben Jahre lang verunreinigtes Valsartan eingenommen haben.
Inzwischen weiß man, dass mindestens vier Lohnhersteller, drei aus China und einer aus Indien, Nitrosamin-verunreinigtes Valsartan produziert haben. Da diese Verunreinigung sehr wahrscheinlich bei einem bestimmten Teilschritt der Wirkstoffsynthese entstanden ist, können andere Wirkstoffe der sogenannten Sartangruppe potenziell ebenfalls verunreinigt sein.3 Dazu zählen Candesartan, Irbesartan, Losartan und Olmesartan. Bei Losartan und Irbesartan hat man inzwischen ebenfalls Nitrosamine entdeckt, allerdings in geringerem Ausmaß als in Valsartan.
Die Kehrseiten der Billigproduktion
Der chinesische Lohnhersteller Zhejiang Huahai ist inzwischen von Inspektoren aus Industrieländern überprüft worden – mit einer langen Liste von Beanstandungen. Die an den Inspektionen beteiligte US-amerikanische Arzneimittelbehörde FDA betont, dass es in der Verantwortung der Lohnhersteller liegt, mit geeigneten Methoden Verunreinigungen aufzuspüren, auch und gerade dann, wenn der Herstellungsprozess verändert worden ist.4 Die Realität sieht jedoch anders aus, denn solche Analysen wurden bei der chinesischen Firma nur oberflächlich durchgeführt. Und eine flächendeckende Kontrolle von Lohnherstellern in angemessenen Zeitabständen dürfte – weil ausgebildete Inspektoren fehlen und die Kosten immens wären – nicht zu realisieren sein. Nur auf möglichst geringe Wirkstoffkosten zu achten, ist also grob fahrlässig.
Eine Rückverlagerung der Produktion von Wirkstoffen und Arzneimitteln in die Industrienationen wäre zwar logisch, jedoch unter dem gegebenen Druck, billig zu produzieren, eher unrealistisch. Auch die Krankenkassen tragen zum Kostendruck bei, etwa durch Rabattverträge, mit denen sie versuchen, immer weniger für verordnete Arzneimittel bezahlen zu müssen.
Kontrollversagen auf vielen Ebenen
Europäische und nationale Vorschriften, die Fehlverhalten und Unzulänglichkeiten bei Lohnherstellern in Billiglohnländern und bei hiesigen Herstellern auffangen sollen, haben im Fall Valsartan nicht funktioniert. Ein solches Multisystemversagen sollte Politik und Behörden aufrütteln, vorhandene Strukturen zu überprüfen und zu korrigieren.
Versagt hat beispielsweise das Europäische Direktorat für die Qualität von Arzneimitteln (EDQM) in Straßburg. Es trägt besondere Verantwortung für die Qualitätssicherung von Wirkstoffen aus Drittländern, da es den Lohnherstellern Zertifikate ausstellt. Diese bestätigen, dass ein von der Firma produzierter Wirkstoff den Regularien der EU entspricht und gemäß vorgegebener Standards überprüft werden kann. Hersteller aus Drittländern müssen für die Zertifizierung detaillierte Unterlagen zur Herstellung und Qualitätsprüfung des Wirkstoffes auf Verunreinigungen einreichen und Änderungen im Produktionsablauf genehmigen lassen. Das Zertifikat vereinfacht es Lohnherstellern, Wirkstoffe in der gesamten EU zu vermarkten. Das Problem dabei: Übersieht das EDQM – und zuvor der Lohnhersteller –, dass ein Syntheseweg Potenzial für bedenkliche Verunreinigungen birgt, kann der Wirkstoff in der gesamten EU in Arzneimitteln vermarktet werden.
Im Nachhinein hat das EDQM die Verunreinigung mit dem Nitrosamin als „unerwartet“ bezeichnet. Das erscheint uns allerdings unglaubwürdig. Pharmazeutische Chemiker haben dem EDQM postwendend widersprochen: Sie bewerten die Bildung des krebsfördernden Nitrosamins angesichts des neuen Syntheseweges als „vorhersehbar“.2,3,5 Arbeitsweise und Methodik der Absicherung der Zertifikate des EDQM sollten daher von externen Gutachtern überprüft werden.2
Ebenfalls in der Verantwortung stehen die Hersteller, deren Namen hierzulande auf der Arzneimittelpackung genannt werden, die sogenannten endfreigebenden Hersteller, die Wirkstoffe mit einem Zertifikat des EDQM verarbeiten. Diese Hersteller sind letztlich für die Qualität der verkauften Arzneimittel verantwortlich.
Der Präsident des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) monierte in einem Interview, dass die endfreigebenden Hersteller hierzulande die Qualitätskontrolle „nicht so umfassend durchführen, wie es nötig wäre“.6
Multisystemversagen mit System
Wie verfahren die Situation ist, lässt ein Blick auf die rechtlichen Hintergründe erkennen: Die Kontrollmöglichkeiten des endfreigebenden Herstellers werden dadurch behindert, dass ein Teil der für die Überprüfung erforderlichen Details zu den Wirkstoffsynthesen als Betriebsgeheimnis behandelt wird und ihnen somit nicht zugänglich ist. Diese Details liegen zwar dem Straßburger EDQM vor. Die Behörde darf sie jedoch nicht vollständig an die europäischen Firmen weitergeben, die einen Wirkstoff mit einem Zertifikat des EDQM verarbeiten. Üblicherweise prüfen die Firmen hierzulande auf die Verunreinigungen, die nach Art der Produktionsmethode zu erwarten wären. Fehlen also Hinweise auf eine mögliche Verunreinigung durch Nitrosamine, ist es somit sehr unwahrscheinlich, dass sie bei der hiesigen Qualitätsprüfung aufgespürt werden.
Schließlich reihen sich auch die Überwachungsbehörden in Deutschland in das Multisystemversagen ein: Wenn sich 37 Überwachungsbehörden in 16 Bundesländern mit den übrigen Beteiligten (Bundesoberbehörden, europäische Behörde, Firmen) abstimmen sollen, sind Zuständigkeitswirrwarr und ineffektive Kommunikation keine Überraschung.
Die Splitterbehörden sollen die Kontrolle der Warenströme international arbeitender Lohnhersteller aus Billiglohnländern und der im Einzugsgebiet der Länderbehörden ansässigen Großfirmen koordinieren und in den Griff bekommen. Dies erscheint uns angesichts der unterschiedlichen Arbeitsqualität sowie der beschränkten finanziellen und personellen Ressourcen von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Immerhin gibt es Signale aus der Politik, Kompetenzen zur Überwachung des Arzneimittelverkehrs auf die Bundesebene zu übertragen.
Und die erste Landesbehörde zieht mit: Die neue Gesundheitsministerin Brandenburgs fordert, dass der Bund in der Arzneimittelaufsicht mehr Verantwortung übernehmen soll.
Was folgt daraus?
Im Valsartan-Skandal ist deutlich geworden, wie kompliziert die Produktion und Qualitätskontrolle von Arzneimitteln und die Überwachung der Arzneimittelhersteller ist, vor allem wenn sie Wirkstoffe von Lohnherstellern aus Billiglohnländern verarbeiten. Eingefahrene Routinen müssen überprüft und gegebenenfalls korrigiert werden, darunter auch die Funktion und Arbeitsweise des EDQM und die Aufgabenbereiche der Länderbehörden, die die in ihrem Bundesland ansässigen Arzneimittelhersteller kontrollieren müssen.
Aus Gründen des vorbeugenden Verbraucherschutzes dürfen Details zur Herstellung und Analytik von Wirkstoffen grundsätzlich nicht als Betriebsgeheimnis unter Verschluss gehalten werden. Obwohl wir davon ausgehen, dass ein Versagen aller Kontrollen wie bei Valsartan eine sehr seltene Ausnahme ist, sollten gut ausgebildete Fachleute insbesondere die Wirkstoffsynthesen von häufig verwendeten Arzneimitteln auf ihr Potenzial für gesundheitsschädliche Nebenprodukte überprüfen. Das gilt insbesondere für Arzneimittel für die Langzeittherapie.
Stand: 1. November 2018 – Gute Pillen – Schlechte Pillen 06/2018 / S.04