Lukrative Nische
Mit Waisenmedikamenten viel Geld verdienen
Medikamente gegen seltene Krankheiten versprechen spärliche Einnahmen, möchte man denken, schließlich gibt es nur wenige Betroffene. Um Anreize für die Forschung zu setzen, hat die Europäische Union Vorzugsbedingungen für die sogenannten Waisenmedikamente geschaffen. Doch die Bilanz nach 20 Jahren sieht ziemlich ernüchternd aus: viel Geld für die Industrie, wenig Nutzen für Patient:innen.1
Für viele seltene Erkrankungen existieren bisher keine Behandlungsmöglichkeiten. Damit Medikamente schneller entwickelt und produziert werden, gibt es in der EU die sogenannte Orphan Drugs Gesetzgebung. Sie bietet Herstellern seit 2000 deutliche Anreize: geringere Anforderungen an den Nachweis der Wirksamkeit neuer Produkte und längerer Schutz vor Konkurrenz. Auch wenn seitdem einige nützliche neue Präparate auf den Markt gekommen sind, ist der Effekt insgesamt enttäuschend. Das ergab letztes Jahr eine Auswertung der EU-Kommission.2
Von den 131 Orphan Drugs, die bis 2017 zugelassen wurden, wären die allermeisten (84%) auch ohne gesetzliche Förderung auf den Markt gekommen. Es gibt also enorme „Mitnahmeeffekte“.
Wenig Lücken gefüllt
Anders als man erwarten könnte, bieten die meisten Orphans nicht die erste Möglichkeit, eine Krankheit überhaupt mit einem Medikament zu behandeln, also eine Behandlungslücke zu schließen. Drei Viertel aller Zulassungen von Orphans betreffen Erkrankungen, für die es schon eine Behandlungsmöglichkeit gibt. Das ist möglich, weil ein Medikament auch dann den Orphan-Status – und damit der Hersteller die Sonderkonditionen – bekommen kann, wenn bereits eine Behandlungsmöglichkeit existiert, diese aber nicht zufriedenstellend ist. Dann wiederum sollte der neue Wirkstoff „besser“ sein als bereits auf dem Markt befindliche Medikamente. Gut gemachte vergleichende Studien fehlen jedoch häufig. Mitunter wird die Wirkung noch nicht einmal mit einem Placebo verglichen. Diese Klausel wird also recht großzügig ausgelegt.
Orphans nicht lohnend?
Eine der Grundannahmen bei der Orphans-Gesetzgebung, dass nämlich Medikamente gegen seltene Erkrankungen nicht profitabel seien, hat sich in vielen Fällen als falsch erwiesen. Ein Grund dafür ist, dass die Definition für „selten“ mit 1 von 2.000 Personen ziemlich großzügig gesetzt ist. Das bedeutet als Obergrenze allein in der EU einen Markt von über 200.000 Patient:innen. Nur jedes dritte zugelassene Orphan-Medikament richtet sich an eine wirklich kleine Zielgruppe: weniger als 20.000 Betroffenen innerhalb der EU.
Krasse Gewinne
Pro EU-Waisenmedikament wurden weltweit im Mittel über 700 Millionen Euro pro Jahr eingenommen. 20 Orphans erzielten 2019 sogar einen Jahresumsatz von über einer Milliarde Euro. Sie sind also alles andere als besonders förderungsbedürftig.3
Extremstes Beispiel ist das Krebsmedikament Revlimid® (Lenalidomid). Der Wirkstoff ist chemisch ein enger Verwandter von Thalidomid (Contergan®). Das Schlafmittel war Ende der 1950er- bis Anfang der 1960er-Jahre für zahlreiche Missbildungen bei Neugeborenen verantwortlich. Lenalidomid kann ebenfalls solche Schäden auslösen; die Verschreibung unterliegt deshalb strengen Bestimmungen. Trotzdem wurde aufgrund des enorm hohen Preises mit Revlimid® 2019 ein Umsatz von 10,8 Milliarden Euro erzielt.
Lenalidomid wurde mit zeitlichem Abstand nacheinander für drei Krebsarten als Orphan zugelassen und bekam so insgesamt 19 Jahre Marktexklusivität. Das bedeutet faktisch eine erhebliche Verlängerung des üblichen Patentschutzes. Diese Monopolstellung gilt für alle Indikationen, also auch für ältere, für die der Schutz ansonsten längst abgelaufen wäre. Revlimid® hat seit Markteinführung über 55 Milliarden Euro in die Kassen des Anbieters Celgene gespült – und das bei minimalen Produktionskosten.
Alter Wein in neuen Schläuchen
Eine weitere Fehlentwicklung sind neue Orphan-Indikationen für alte Präparate, die längst keinen Schutz mehr genossen hatten. Das trifft auf 19 Prozent aller unter dieser Gesetzgebung zugelassenen Medikamente zu. Durch die Orphan-Regeln gibt es einen neuen exklusiven Vermarktungsschutz. Und das erlaubt krasse Preissteigerungen, die – so die EU-Kommission – in keinem Verhältnis zu den Forschungskosten stehen. Dazu ein Beispiel:
Chenodeoxycholsäure (CDCA) wurde 1974 zur Behandlung von Gallensteinen eingeführt und gilt bei dieser Erkrankung inzwischen als medizinisch überholt. 2010 kaufte der Hersteller Leadiant die Rechte und beantragte später bei der europäischen Kontrollbehörde EMA eine Zulassung des Wirkstoffs gegen eine seltene Stoffwechselkrankheit.4 Dabei hatte die Firma diese Anwendungsmöglichkeit gar nicht selbst entdeckt. Universitätswis-senschaftler:innen hatten dies in entsprechenden Studien nachgewiesen, und die Behandlung mit dem Wirkstoff war längst Standard. Das hielt Leadiant nicht davon ab, den Preis für das fast fünfzig Jahre alte Präparat auf das 450-fache anzuheben. Dadurch kostet die CDCA-Behandlung pro Patient:in jetzt knapp 300.000 Euro pro Jahr.
Monopol für immer
Selbst nach Ablauf der Marktexklusivität setzt selten Wettbewerb ein. Bei 70 Orphans ist der Schutz inzwischen abgelaufen. Doch nur bei jedem fünften davon ist ein Konkurrenzprodukt auf den Markt gekommen, für den Rest gibt es immer noch ein De-facto-Monopol und entsprechend hohe Preise.
Zugang für wen?
Ein weiteres gravierendes Problem: Der Orphan-Status bedeutet für den Hersteller erhebliche finanzielle Vorteile, verpflichtet ihn aber nicht, das Medikament auch EU-weit bereitzustellen. So waren 2016 in Deutschland 126 Orphans verfügbar, in Finnland 75 und in Litauen gerade einmal 32. Aus Sicht der Hersteller lohnt sich der Vertrieb in diesen Ländern nicht, weil der Markt zu klein ist: Die öffentlichen Gesundheitssysteme können sie bei den hohen Preisen nicht finanzieren. Vielen Patient:innen in Europa bleibt der Zugang zu den Medikamenten also verwehrt.
Kosten als Black Box
Die Sonderkonditionen für Orphans gibt es ja nur, um ihre Entwicklung wirtschaftlich zu machen. Doch über die Forschungs- und Produktionskosten weiß man viel zu wenig. Auch die Analyse der EU konnte dem nicht abhelfen: Die Hersteller weigerten sich oder waren unfähig, entsprechende Zahlen zu liefern. So bleibt die Behauptung der Industrie, Orphans zu entwickeln bedürfte grundsätzlich zusätzlicher Förderung, eine unbelegte Aussage. Als sicher gilt, dass die klinischen Studien – also der teuerste Teil der Forschung – für Orphans mit viel weniger Patient:innen durchgeführt werden, die Kosten also deutlich geringer sind. Ebenfalls nicht ermitteln konnte die Kommission Zahlen zum Forschungsinput öffentlicher Einrichtungen. Dazu gibt es aber durchaus Hinweise: Bei den neuen extrem teuren Gentherapien wird derzeit die Hälfte aller klinischen Studien ausschließlich von öffentlichen Geldgebern finanziert.5
Die Kommission hat versucht, sich mit der Ermittlung von Umsatzzahlen und Daten von Wirtschaftsanalysten zu behelfen. So ergab eine Modellrechnung, dass die Kapitalrendite für Orphan Drugs doppelt so hoch ist wie für andere Medikamente.
Die Diskussion ist eröffnet
Der Versuch, bessere Behandlungsmöglichkeiten für seltene Erkrankungen gezielt zu fördern, ist weitgehend gescheitert. Es ist also dringend an der Zeit, die Förderung gut durchdacht zu verändern. Ein neues, sinnvolles System muss dafür sorgen, dass mehr Patient:innen, für die es bislang gar keine Behandlung gibt, eine Chance auf die Entwicklung wirksamer Medikamente erhalten; es muss Gewinnmitnahme-Effekte der Hersteller verhindern und bezahlbare Preise sichern. Man darf gespannt sein, wie die Debatte in der EU weitergeht.
Stand: 30. Juni 2021 – Gute Pillen – Schlechte Pillen 04/2021 / S.25