Chronisch nierenkrank oder „nur“ falsch klassifiziert?
Unsere Nieren leisten Enormes. Sie schaffen Abfall- und Giftstoffe über den Urin aus dem Körper und regeln unseren Salz- und Wasserhaushalt. Funktioniert dies nicht, besteht eine Niereninsuffizienz. Hält sie an, lautet die Diagnose meist „chronisch nierenkrank“. Diese Einstufung erfolgt oft viel zu schematisch – und die Überdiagnostik mit allen Strapazen nimmt ihren Lauf.
Bei Nierenleiden ist es wichtig zu wissen, welche Erkrankung jeweils genau vorliegt und wie stark die Entgiftungsleistung der Nieren dadurch bereits eingeschränkt ist (Niereninsuffizienz). Für Patienten ist es ganz entscheidend, ob und wie schnell eine Niereninsuffizienz fortschreitet. Das lässt sich meist durch die Messung von Eiweiß (Albumin) im Urin erkennen.
Ist die Nierenleistung bereits stark eingeschränkt und übersteigt die Albuminausscheidung ein bestimmtes Maß, schreitet die Erkrankung meistens schneller fort. Auch die Wahrscheinlichkeit für andere Erkrankungen, z. B. Herz-Kreislauf-Krankheiten, ist dann höher. Menschen mit eingeschränkter Nierenleistung sollten daher frühzeitig einen Spezialisten (Nephrologen) aufsuchen und sich informieren lassen (vgl. GPSP 3/2013, S. 19).
Der Diagnose-Haken
Im Laufe des Lebens nimmt auch bei Gesunden die Entgiftungsleistung der Nieren deutlich ab. Das ist normal. Bei einem Menschen über 60 ist sie beispielsweise nur noch halb so groß wie bei einem gesunden 20-Jährigen. Frauen haben generell eine geringere Entgiftungsleistung als Männer. Das muss bei der Dosierung solcher Arzneimittel bedacht werden, deren Wirkstoffe oder Abbauprodukte von den Nieren ausgeschieden werden. Selbstverständlich müssen normale Alterungsprozesse auch von Fachgremien berücksichtigt werden, wenn sie Stadien der Nierenleistung klassifizieren, um zu beurteilen, ob ein Mensch chronisch nierenkrank ist.
Krank gerechnet
Die Einstufung „chronisch nierenkrank“ (chronic kidney disease) der US National Kidney Foundation aus dem Jahr 2002, die in Deutschland und vielen anderen Ländern verwendet wird, hat jetzt eine angesehene Gruppe von Nierenspezialisten aus Australien gut begründet kritisiert.1 Demnach werden mit der derzeitigen Klassifikation zu viele, besonders ältere Menschen, zu chronisch Nierenkranken gemacht: Ältere Menschen haben zwar rein rechnerisch eine eingeschränkte Entgiftungsleistung der Nieren im Vergleich mit jungen. Dies muss aber nicht unbedingt Folge einer chronischen Nierenkrankheit sein. Eine altersgemäße Einschränkung der Nierenfunktion bereitet im Laufe des weiteren Lebens in der Regel keine gesundheitlichen Probleme.
Wird jedoch die derzeitige Definition starr befolgt, führt dies zu einer Überdiagnostik, also zu unnötigen medizinischen Kontrollen und damit auch zu überflüssigen Kosten.
Die australischen Nierenspezialisten errechneten, dass durch die Definitionen aus dem Jahr 2002 in den USA 1 von 8 Erwachsenen eine chronische Nierenkrankheit haben soll. Zuvor war es nur etwa 1 von 60. In Deutschland dürfte die Situation ähnlich sein. Warum die Definitionen für Niereninsuffizienz so ausgreifend ausgefallen sind, ist nicht recht klar. Das Bemühen, Nierenkrankheiten in ihrem Verlauf früh zu erfassen und zu behandeln, ist verständlich. Es besteht jedoch die Gefahr, dass normale Alterungsprozesse der Nieren fälschlicherweise als Krankheit eingestuft werden.
Mehr als die Hälfte der Verfasser der derzeit gültigen Klassifizierung (2002) hatte im Übrigen Interessenkonflikte, und verfolgt möglicherweise die Interessen pharmazeutischer Unternehmer und Hersteller von Medizinprodukten, kritisieren die australischen Autoren der aktuellen Veröffentlichung.
Fazit: Wer eine altersgemäß verringerte Nierenfunktion hat, ist damit nicht automatisch „chronisch nierenkrank“. Die Ärztin oder der Arzt muss prüfen, ob tatsächlich eine Krankheit vorliegt. Mit unterschiedlichen Laboruntersuchungen sollte ermittelt werden, ob und wie schnell sich die bereits eingeschränkte Nierenleistung verschlechtert und ob Albumin im Urin ausgeschieden wird.
Stand: 1. Februar 2014 – Gute Pillen – Schlechte Pillen 01/2014 / S.17