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© Jörg Schaaber

Höchste Zeit für Korrekturen

Der Einfluss der Pharmaindustrie

Welchen Einfluss hat die Pharmaindustrie eigentlich auf die Gesundheitsversorgung? Bringen Arzneimittel immer den versprochenen Nutzen? Gibt es nicht doch erhebliche Störfaktoren, die ihren vernünftigen Einsatz verhindern? Ein Untersuchungsausschuss des britischen Unterhauses ist diesen Fragen nachgegangen. Er fordert weit reichende Änderungen im Umgang mit der Industrie.

Nach der Anhörung von Dutzenden von Experten, Industrie- und Verbrauchervertretern kam der Ausschuss zu einer herben Feststellung: „Das Gesundheitsministerium hat zu lange darauf gesetzt, dass das öffentliche Interesse an Gesundheit mit den Interessen der Industrie identisch ist.“ Der Einfluss der Industrie habe über die Jahrzehnte zugenommen. Fehlentwicklungen seien zu beklagen: Die Industrie beeinflusst alle Bereiche des Gesundheitswesens, angefangen bei der Entwicklung von Medikamenten, über die Information zu Arzneimitteln bei Ärzten und Patienten bis dahin, welche Medikamente verschrieben werden – oder aus  der Rezept­pflicht entlassen werden. Sogar die Behandlungsleitlinien, an denen sich Ärzte orientieren, werden von Arzneimittelfirmen beeinflusst. Zum Beispiel haben viele Wissenschaftler, die an solchen Leitlinien mitarbeiten, Verträge mit der Industrie.

Der britische Ausschuss sieht gravierende Folgen der Unterwanderung des Gesundheitswesen durch Pharma­unternehmen: „Der falsche oder unangemessen breite Gebrauch von Arzneimitteln kann Leid, Krankheit, Krankenhauseinweisung oder sogar den Tod zur Folge haben. Unerwünschte Arzneimittelwirkungen sind für 5% der Krankenhausaufnahmen […] verantwortlich.“1 Was sind die Gründe?

Manipulation von Studien

Neue Medikamente werden in klinischen Studien getestet, um ihre Wirksamkeit und Sicherheit zu belegen. Doch dabei geht es längst nicht immer mit rechten Dingen zu. Oft lassen Her­steller die Studien gleich so anlegen, dass ihre Präparate möglichst günstig abschneiden. Notwendige Vergleiche mit bewährten Therapien unterbleiben häufig. Eine durchsichtige Strategie: Man könnte ja sonst erkennen, dass das neue Mittel möglicherweise gar nicht besser ist. Als Folge solcher Manipulationen werden neue Medikamente häufig zu positiv bewertet.

Ein anderes Problem: Studien, die für Hersteller ungünstig ausgegangen sind, verschwinden in den Tresoren der Firmen. Damit das nicht geschieht, wird schon seit Jahren ein weltweit einheitliches und öffentlich zugängliches Register gefordert, in das alle Studien von Beginn an aufgenommen werden müssen. Demgegenüber sind die von der Industrie eingeführten Register kontraproduktiv. Sie sind unübersichtlich, ihre Vollständigkeit ist nicht überprüfbar und wichtige Daten sind oft nicht öffentlich einsehbar.

Mangelnde Kontrolle

Die Behörden, die für die Zulassung und die Überwachung von Arzneimitteln zuständig sind, erhalten von Pharmafirmen nicht immer alle relevanten Informationen. Oder die Firmen setzen alles daran, dass für ihr Produkt ungünstige Ergebnisse in einer Unmenge von Daten „versteckt“ werden. Diesentlastet die zuständigen Kon­trolleure allerdings nicht von ihrer Verantwortung, Entscheidungen zu treffen, die auf dem aktuellen  Wis­senstand beruhen. Auch müssen die Anforderungen an Arzneimittelstudien höher geschraubt werden, damit die relevanten offenen Fragen vor der Zulassung der neuen Mittel geklärt werden können.

Versagt haben die Behörden beispielsweise bei den neueren Medikamenten zur Behandlung von Depressionen. Bei genauerer Analyse der Daten, die die Firmen für die Zulassung eingereicht hatten, hätten sie trotz der verschleiernden Angaben erkennen müssen, dass Patienten unter der Therapie und beim Absetzen der Medikamente schwerwiegende Nebenwirkungen erleiden können – bis hin zu Selbsttötungsabsichten.1 Warnungen hierzu unterblieben aber viele Jahre und wurden erst durch die zähe Arbeit einer unabhängigen Verbraucherschutzorganisation und mit Hilfe der Medien durchgesetzt. Die Warnhinweise in den Beipackzetteln kamen also viel zu spät. Jahrelang wussten Patienten nicht, welchen Risiken sie sich aussetzen.

Einfluss von Meinungsbildnern

Mit massiven Werbekampagnen drücken Firmen neue Arzneimittel schnell auf den Markt. Sie setzen dabei nicht nur auf Pharmavertreter oder Werbe­anzeigen in Zeitschriften, sondern nutzen auch weit zweifelhaftere Methoden. Beispielsweise bezahlen sie Experten, die in der Fachwelt bekannt sind oder Funktionen haben, etwa in Fachgesellschaften. Die Experten treten als „unabhängige“ Ratgeber auf, und rücken die Produkte auf „Fortbildungsveranstaltungen“ in ein günstiges Licht. Deshalb werden sie auch als Mietmäuler bezeichnet. Firmen gründen oder sponsern auch „Patientengruppen“ oder „Ärzte-Initiativen“, die dann im Sinne des Sponsors die angeblich unverzichtbaren neuen Medikamente einfordern (siehe Werbung, aufgepasst! in GPSP 4/2006, S. 3 und Deutscher Diabetiker Bund, GPSP 2/2006, S. 3).

Weltweit regt sich Widerstand gegen die Werbestrategien der Firmen. Der britische Ausschuss fordert, die Menge des Werbematerials für neue Medikamente zu beschränken und unabhängige Information zu fördern. Irreführende Werbung muss effektiver verfolgt werden.

Auch in Deutschland liegen Verfolgung und Bestrafung irreführender Werbung im Argen. Hierzulande sind jeweils die Behörden des Bundeslandes zuständig, in denen die Firmen ihren Sitz haben. Unzureichende Strafvorschriften und die Dezentralisierung fördern Ineffektivität. Die Behördenmitarbeiter sind oft überlastet oder durch die Vielzahl der Verstöße und die Komplex­ität der Vorgänge überfordert.

Was tun?

Reformvorschläge gibt es viele. Vor allem gilt es den Einfluss der Arzneimittelhersteller auf die Verordnungspraxis der Ärzte zu verringern. Hierzu kann beispielsweise eine für Ärzte und Apotheker verpflichtende firmen­unabhängige Aus- und Fortbildung in wissenschaftlich begründeter Medikamentenauswahl beitragen. Die Regierungen müssen außerdem mehr Geld für unabhängige Arzneimittelforschung bereitstellen. Und sie müssen systematische Vergleiche von relevanten Therapien finanzieren sowie die Behandlungsmöglichkeiten ohne Medikamente gezielter untersuchen lassen. Auch die Überwachung von unerwünschten Wirkungen ist dringend zu verbessern.

In Deutschland haben die Reformen im Gesundheitswesen derzeit ein vorrangiges Ziel: Kosten senken. Dies mag angesichts einer Steigerung der Arzneimittelausgaben um 16% im letzten Jahr (das bedeutet 3,3 Milliarden €)2 nachvollziehbar sein, ist aber auch eine direkte Folge früherer Fehlsteuerungen. Was gebraucht wird, sind langfristige Strategien, die gewährleisten, dass gesicherte Wirksamkeit und gute Verträglichkeit den Ausschlag für die Wahl eines Arzneimittels geben und nicht die Höhe des Betrages, den ein Hersteller für Werbung ausgibt.

  1. House of Commons Health Committee. The Influences of the Pharmaceutical Industry. 22 March 2005 www.publications.parliament.uk/pa/cm200405/cmselect/cmhealth/cmhealth.html
  2. Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit zu dem Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD – Drucksache 16/194 http://dip.bundestag.de/btd/16/006/1600691.pdf

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– Gute Pillen – Schlechte Pillen 05/2006 / S.06