Aducanumab: Profit wichtiger als Nutzen?
Umstrittenes Alzheimer-Medikament in den USA genehmigt
Im Juni 2021 wurde in den USA der Wirkstoff Aducanumab gegen Alzheimer-Demenz zugelassen. Ob das für die Zielgruppe eine gute Entscheidung war, ist aber äußerst fraglich: eine Geschichte von zweifelhaften Analysen und merkwürdigen Entscheidungen der Zulassungsbehörde gegen soliden wissenschaftlichen Rat.
Bei einer Alzheimer-Demenz sind die Behandlungsoptionen mit Medikamenten bislang begrenzt: Einige Mittel können den Verlust der geistigen Fähigkeiten und der Selbstständigkeit bei leichter und mittelschwerer Demenz bestenfalls etwas verzögern, allerdings sind die Effekte eher bescheiden und viele Fragen offen. Alzheimer nachhaltig aufhalten oder gar heilen kann keins der bislang verfügbaren Arzneimittel.1
Neu – aber auch wirksam?
Auf neuen Wirkstoffen ruhten deshalb in den letzten Jahren riesige Hoffnungen, die sich aber allesamt zerschlagen haben: In großen Studien zeigte sich keine ausreichende Wirksamkeit. Dass die US-amerikanische Behörde FDA im Juni 2021 zum ersten Mal seit fast 20 Jahren mit dem Wirkstoff Aducanumab wieder ein Mittel gegen Alzheimer zugelassen hat, sorgt für enormen Wirbel. Allerdings nicht, weil es jetzt endlich ein wirksames Medikament gegen Demenz gäbe, sondern weil vieles gegen die Zulassung spricht.
Gegen Amyloid-Plaques
Aducanumab ist ein Antikörper, der sich gegen das sogenannte Beta-Amyloid richtet. Bei Patient:innen mit Alzheimer-Demenz finden sich Ablagerungen („Plaques“) dieses Eiweißes im Gehirn und Fachleute vermuten einen ursächlichen Zusammenhang mit dem Untergang von Nervenzellen, der schließlich zur Demenz führt. Aducanumab soll Amyloid-Plaques entfernen und so den Krankheitsprozess nachhaltig aufhalten.
Allerdings sind bei dieser „Amyloid-Hypothese“ zur Entstehung der Alzheimer-Demenz noch viele Fragen offen und sie gilt keineswegs als gesichert (siehe Kasten). Deshalb besteht eigentlich Konsens darüber, dass die Anbieter von Medikamenten vor allem nachweisen müssen, dass die Mittel Patient:innen praktisch nützen: Dass sie also zum Beispiel weniger vergesslich sind, besser ihren Alltag bewältigen und länger selbstständig leben können. Auswirkungen auf Amyloid-Plaques gelten dagegen nur als indirekter und unsicherer Hinweis, also als „Surrogat-Endpunkt“.2
Test im Frühstadium
In den beiden Studien, die die Firma Biogen, der Anbieter von Aducanumab, für die Zulassung begonnen hatte, wurde deshalb vor allem getestet, wie sich die Behandlung auf die geistigen und praktischen Fähigkeiten auswirkt, etwa Gedächtnis, Orientierung oder die eigenständige Lebensführung.
An den Studien nahmen Menschen mit leichten kognitiven Einschränkungen teil, die oft als „Vorstufe“ einer Demenz betrachtet werden, und solche, bei denen bereits die Diagnose Demenz gestellt wurde, die sich aber noch in einem frühen Stadium befanden. Bei allen hatten die Wissenschaftler:innen Amyloid-Plaques im Gehirn festgestellt. Als Behandlungen wurden eine hohe oder eine niedrige Dosis von Aducanumab mit einem Scheinmedikament verglichen.4
Eigentlich sollten die Studien über eineinhalb Jahre laufen. Der Anbieter brach die Studien aber im August 2018 bereits nach der Hälfte der Zeit ab, weil Aducanumab in beiden Untersuchungen als nicht aussichtsreich genug erschien: Denn es gingen zwar die Amyloid-Plaques zurück, hinsichtlich der geistigen und praktischen Fähigkeiten fand sich mit dem Wirkstoff aber kein größerer Nutzen als mit dem Scheinmedikament. Zu diesem Zeitpunkt sah es so aus, als wäre Aducanumab ein weiteres gescheitertes Alzheimer-Medikament.
Auferstanden aus Ruinen
Den Abbruch der Studien hatte Biogen im März 2019 bekanntgegeben. Umso größer war die Überraschung, als der Anbieter später im Jahr verkündete, dass sich in einer neuen nachträglichen Analyse in einer der Studien doch Vorteile für Aducanumab gezeigt hätten: Dazu hatte Biogen für einige Patient:innen nach dem offiziellen Aus der Studien noch weitere Daten gesammelt und auf dieser Basis für die höhere Dosierung doch einen Nutzen berechnet. Mit diesem Ergebnis reichte der Anbieter schließlich den Zulassungsantrag bei der FDA ein.
Solche nachträglichen Auswertungen werden bei klinischen Studien zu Recht sehr kritisch betrachtet: Denn wenn die Daten bereits erhoben sind, lässt sich mit Rosinenpickerei leicht das gewünschte Ergebnis herausrechnen und die Gefahr für zufällig positive Ergebnisse steigt. Aus diesem Grund wird normalerweise vor Beginn der Studie festgelegt, wie die Daten ausgewertet werden sollen. Nachträgliche andere Analysen können zwar Hinweise geben, in welche Richtung sich weitere Forschung lohnen könnte. Als Wirksamkeitsbeleg taugen sie in der Regel aber nicht.
Wirklich positiv?
So sah es auch das wissenschaftliche Beratungsgremium, das die FDA Ende 2020 nach ihrer Einschätzung befragte. Und die war eindeutig: Keins der elf Mitglieder befürwortete die Zulassung, zehn davon sprachen sich explizit dagegen aus.5
In der Regel müssen für eine Zulassung zwei gut gemachte Studien die Wirksamkeit eines neuen Medikaments bestätigen. Eine einzige Studie reicht der FDA nur aus, wenn damit der Nutzen zweifelsfrei belegt werden kann. Davon kann bei Aducanumab aber keine Rede sein: Eine der beiden Studien war eindeutig negativ, die andere zeigte nur in einer nachträglichen Auswertung positive Effekte und die sind nicht nur höchst unsicher, sondern es ist auch unklar, ob ihre Größenordnung für Patient:innen überhaupt relevant wäre: Für den wichtigsten Aspekt der Analyse lag der Unterschied zwischen dem Antikörper und Placebo im Mittel bei 0,39 Punkten auf einer Skala von insgesamt 0 bis 18 Punkten. Um als bedeutsam zu gelten, muss der Unterschied aber mindestens ein bis zwei Punkte betragen.6
Schaden möglich
Hinzu kommt ein erhebliches Nebenwirkungspotenzial. Mit der zugelassenen Dosierung kam es bei 35 von 100 Teilnehmenden in der Aducanumab-Gruppe zu Gehirnschwellungen7 (verglichen mit 3 von 100 in der Placebo-Gruppe) und bei 19 von 100 (verglichen mit 7 von 100 in der Placebo-Gruppe) zu Mikroblutungen im Gehirn.
Um solche unerwünschten Effekte frühzeitig zu erkennen, müssen sich Patient:innen während der Behandlung unangenehmen und teuren MRT-Untersuchungen unterziehen. Alle vier Wochen ist eine einstündige Infusion von Aducanumab nötig, MRT-Untersuchungen sechs und zwölf Monate nach Beginn der Behandlung – und zusätzlich, wenn bestimmte Anzeichen den Verdacht auf diese Nebenwirkungen nahelegen.8
Bevorzugte Behandlung
Fraglicher Nutzen, belegte Risiken, Ablehnung durch die Expert:innen: Das alles hätte gegen die Zulassung gesprochen. Die FDA setzte sich aber nicht nur über alle diese Argumente hinweg, sondern ging sogar noch einen Schritt weiter: Sie erteilte dem Alzheimer-Medikament sogar eine „beschleunigte Zulassung“ (accelerated approval): Die ist normalerweise für Mittel vorgesehen, bei denen es berechtigte Hoffnung gibt, dass damit eine schwere Erkrankung besser als mit den bisherigen Therapieoptionen behandelt werden kann, auch wenn die Nutzenbelege bislang noch nicht für eine volle Zulassung ausreichen. Die FDA hat diese Einstufung für Aducanumab mit den Effekten auf die Amyloid-Plaques begründet. Dieses Argument steht angesichts der beschriebenen Unsicherheiten allerdings auf äußerst wackligen Beinen.
Medienberichten zufolge traten drei Experten des Beratungsgremiums aus Protest gegen die FDA-Entscheidung von ihrem Amt zurück.
Bei der Zulassung hatte die FDA zunächst die Anwendung bei allen Stadien der Alzheimer-Erkrankung genehmigt. Anfang Juli wurde die Zulassung auf die Patient:innen präzisiert, die in den Studien untersucht worden waren: mit früher Alzheimer-Erkrankung oder einer Vorstufe mit erhöhtem Demenz-Risiko.
Zu späte Erkenntnisse
Zwar ist die beschleunigte Zulassung mit der Auflage verbunden, dass Biogen eine neue Studie auflegen muss. Mit Ergebnissen wird aber erst 2030 gerechnet. Im schlechtesten Fall würde sich dann herausstellen, dass Alzheimer-Patient:innen fast zehn Jahre lang mit einem unnützen und schädlichen Mittel behandelt worden sind.
Kritiker bemängeln, dass in diesem Verfahren die Zusammenarbeit zwischen Biogen und der FDA ungewöhnlich eng war, etwa bei der nachträglichen Auswertung der Studie. Das könnte die Objektivität der Zulassungsbehörde, die eigentlich Patient:innen schützen soll, beeinträchtigt haben.6
Finanzielle Toxizität
Außer für das Gehirn birgt Aducanumab auch Risiken in finanzieller Hinsicht: In den USA müssen Patient:innen oft einen erheblichen Anteil der Behandlungskosten tragen. Im Fall Aducanumab betrifft das nicht nur die Kosten für das Medikament, sondern auch für die notwendigen zusätzlichen Untersuchungen. Vor allem angesichts der Unsicherheit des Nutzens ruft der Anbieter einen überzogenen Preis auf: Pro Jahr sollen es rund 56.000 US-Dollar sein. Das dürfte für viele Betroffene kaum zu stemmen sein. Einer gesundheitsökonomischen Analyse eines unabhängigen Instituts zufolge läge ein angemessener Preis, der den bislang nachgewiesenen Nutzen berücksichtigt, zwischen etwa 2.600 und 8.300 US-Dollar pro Jahr.4
Negative Folgen sind möglicherweise zudem für die Alzheimer-Forschung zu erwarten: Wenn jetzt ein zugelassenes Medikament zur Verfügung steht – so umstritten der Nutzen auch ist – könnte das Betroffene davon abhalten, sich auf eine klinische Studie einzulassen. Damit würde es viel schwieriger, Teilnehmende für möglicherweise aussichtsreiche Medikamente zu finden und so zum Beispiel weitere Belege für oder gegen die Amyloid-Hypothese zu sammeln.6
Und in Europa?
Biogen hat bei der europäischen Zulassungsbehörde EMA bereits die Unterlagen eingereicht. Ob sich die EMA der Interpretation der FDA anschließt und wann in diesem Fall mit einer Zulassung zu rechnen wäre, ist bislang unklar. Allerdings haben Vertreter der Behörde in der Vergangenheit viel Sympathie für die Idee gezeigt, Arzneimittel schnell zuzulassen und erst hinterher gründlich zu prüfen, ob sie wirklich helfen oder eher schaden. Dieses Konzept der „adaptive pathways“ wurde von Verbraucherschützer:innen und GPSP in der Vergangenheit deutlich kritisiert. Es steht zu befürchten, dass die EMA Aducanumab für einen geeigneten Kandidaten halten könnte. Das käme einem Großversuch auf Risiko der Patient:innen und zulasten der Allgemeinheit gleich.
Demenz
GPSP 5/2008, S. 12
Demenz-Mittel
GPSP 6/2018, S. 14
Surrogat-Endpunkte
GPSP 5/2019, S. 22
Adaptive pathways
GPSP 4/2016, S. 19
Stand: 31. August 2021 – Gute Pillen – Schlechte Pillen 05/2021 / S.08