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Cholesterin nicht dämonisieren

Warum das Risiko für Herzinfarkt nicht nur eine Frage von Blutfettwerten ist

Wie stark beeinflussen Blutfettwerte das Risiko für einen Herzinfarkt oder Schlaganfall? Und wann kann es sinnvoll sein, bei erhöhtem Cholesterinspiegel einen Lipidsenker einzunehmen? Darauf gibt es keine allgemeingültige Antwort – deshalb müssen Arzt und Patient die jeweilige Gefährdung und mögliche Behandlungsoptionen besprechen. Das betont der Allgemeinmediziner Norbert Donner-Banzhoff, mit dem wir über diese Fragen gesprochen haben.

GPSP: Immer wieder hört man die Behauptung, dass erhöhte Cholesterinwerte gar nicht gefährlich, sondern ein Marketing-Instrument der Pharmaindustrie sind. Woher kommen solche Ideen?

Donner-Banzhoff: Mehrfach gab es große Kampagnen, die einseitig die Gefährlichkeit des Cholesterins betont haben. Daraus wurden dann unnütze und schädliche Empfehlungen abgeleitet. Ärzte haben zum Beispiel älteren Frauen gesagt: „Ihr dürft keine Eier mehr essen“. Oder es wurden bei leicht erhöhtem Cholesterinspiegel grundsätzlich Arzneimittel verordnet. Natürlich steckten da auch kommerzielle Interessen von Pharmafirmen dahinter. Mittlerweile betrachten wir das Ganze jedenfalls deutlich differenzierter.

Welche Rolle spielt heute der Cholesterinwert?

Es ist unstrittig und in vielen Studien belegt, dass das Risiko für einen Herzinfarkt oder Schlaganfall steigt, je höher das LDL-Cholesterin und je niedriger das HDL-Cholesterin ist. Cholesterin ist aber nur ein Risikofaktor unter vielen. Einen viel größeren Einfluss haben das Alter, das Geschlecht und ob ein Patient bereits unter Arteriosklerose leidet.

Wenn jemand also nur einen leicht erhöhten Cholesterinspiegel hat und sonst keine anderen Risikofaktoren, muss er nicht unbedingt einen Lipidsenker ein­nehmen?

Stimmt. Seit etwa 15 Jahren hat es sich in der Medizin durchgesetzt, nicht einzelne Risikofaktoren isoliert zu betrachten, sondern sich das Gesamtrisiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen anzusehen. Bei mäßig erhöhten Cholesterinwerten hat ein 62-jähriger Mann, der unter Diabetes und Bluthochdruck leidet und zusätzlich raucht, ein deutlich höheres Risiko als eine 40-jährige Frau mit identischen Cholesterinwerten, aber ohne weitere Risikofaktoren. Der Cholesterinwert geht zwar in das Gesamtrisiko ein, sollte aber nicht dämonisiert werden.

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© Natika/ fotolia.com

Bei welcher Risikokonstellation kann die Behandlung mit einem Lipidsenker sinnvoll sein?

Ich plädiere dafür, die Situation immer individuell mit dem Patienten zu besprechen: Ich erkläre ihm anhand seiner Risikofaktoren die Prognose. Dabei liegt es auch an den Wünschen und Wertvorstellungen des Patienten oder der Patientin, ob eine Situation Sorgen bereitet oder nicht. Eine Schwelle, bei der ich mit einem Patienten über den Nutzen von Medikamenten spreche, ist ein Risiko von 20% in den nächsten zehn Jahren.

Und das bedeutet konkret?

Von 100 Menschen mit dem gleichen Alter und Geschlecht und mit den gleichen Risikofaktoren bekommen statistisch gesehen 20 in den nächsten zehn Jahren einen Herzinfarkt oder Schlaganfall. Diese Schwelle ist aber nur ein Anhaltspunkt für das ärztliche Vorgehen. Es kann auch sein, dass ein Mensch ängstlich ist und schon bei 15% den Wunsch hat, etwas Vorbeugendes zu tun. Meistens ist es aber umgekehrt, dass die Patienten bis etwa 25% den Effekt der Medikamente als nicht so bedeutsam empfinden und abwarten möchten.

Spielt bei der Berechnung des Risikos auch eine Rolle, ob man bereits einmal einen Herzinfarkt hatte?

Das ist tatsächlich der wichtigste Risikomarker. Dieser Patient ist automatisch in einer Hochrisiko-Klasse. Die komplizierte Berechnung anhand des Alters, des Cholesterinwerts und der anderen Marker kann man sich dann im Grunde sparen.

Weltweit ist ein Risiko von 20% als Behandlungsschwelle aber nicht unumstritten. Die amerikanischen Leitlinien empfehlen schon ab einem Risiko von 7,5% eine Therapie.

Ja, das ist typisch für solche im Grunde genommen willkürlich festgelegten Schwellen. Es stehen zwar bestimmte wissenschaftliche Überlegungen dahinter, aber auch ärztliche Vorstellungen darüber, was gut für Patient oder Patientin ist. Deshalb kommen verschiedene Einrichtungen, Gesundheitssysteme und Personen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Objektive Kriterien gibt es nicht, mit dieser Grauzone müssen wir leben. Deshalb ist es auch so wichtig, die individuellen Vorstellungen von Patienten mit einzubeziehen.

Wenn Arzt und Patient sich in dieser Situation auf eine Behandlung mit Medikamenten verständigen, wird meist ein sogenanntes Statin verordnet. Warum?

Es ist in vielen Studien gut dokumentiert, dass Statine das Risiko für einen Herzinfarkt oder Schlaganfall senken. Das steht im Gegensatz zu vielen anderen Lipidsenkern, für die das nicht so klar belegt ist. Die haben in der Regel eine wesentlich schwächere Wirkung, manchmal erhöhen sie das Risiko sogar. Dabei ist es interessant, dass die Statine nicht nur über eine Senkung des Cholesterinspiegels wirken, sondern noch über einige weitere Mechanismen. Sie senken zum Beispiel die Klumpungsneigung der Blutplättchen.

Lässt sich denn der Nutzen auch in Zahlen ausdrücken?

Wer ein Statin einnimmt, senkt das Risiko für einen Herzinfarkt oder Schlaganfall. Wie stark, hängt erheblich vom Risiko des Einzelnen ab. Ist es hoch, profitieren etwa zehn von 100 Patienten, ist das Ausgangsrisiko niedrig, profitiert vielleicht nur einer von 100 Patienten oder sogar weniger. Aber man muss auch klar sagen: Ein Statin ist keine Unsterblichkeitsdroge. Es kann nicht jeden Herzinfarkt oder Schlaganfall verhindern. Und ich kann nicht vorhersagen, ob meine Patientin wirklich einen Nutzen davon hat. Wenn zehn von 100 Patienten profitieren, haben die anderen 90 keinen Nutzen, obwohl sie das Statin einnehmen. So weit können wir mit Hilfe von Studien die Unsicherheit statistisch einengen. Für den einzelnen Menschen ist eine genaue Vorhersage jedoch nicht möglich. Dazu ist das biologische System „Mensch“ zu komplex.

Wie sinnvoll ist es, bei Patienten und Patientinnen, die ein Statin nehmen, regelmäßig den LDL-Spiegel zu messen?

Das wird unter Fachleuten gerade kontrovers  diskutiert. Es gibt zwei Positionen: Die einen plädieren dafür, einfach eine feste Standarddosis einzusetzen und sich dann die Cholesterinmessungen zu sparen. Andere Experten sprechen sich für die Zielwertstrategie aus: Da wird regelmäßig der Cholesterinspiegel gemessen und die Dosis oder der Wirkstoff so lange verändert, bis der Zielwert an LDL-Cholesterin erreicht ist. Für beide Positionen gibt es gute Gründe, aber die Studienlage für die feste Dosis ist meiner Meinung nach besser. Und in diese Richtung entwickeln sich auch gerade international die Leitlinien, die eine Orientierung für die Ärzte bieten sollen. Außerdem ist zu befürchten, dass nicht erreichte Zielwerte für Patienten frustrierend und enttäuschend sind. Wenn das dazu führt, dass jemand sein Medikament überhaupt nicht mehr nimmt, ist das sehr schade, weil er dann auf eine wirksame Therapie verzichtet.

Ein wirksames Arzneimittel kann in der Regel auch zu unerwünschten Wirkungen führen. Wie sieht das bei den Statinen aus?

Muskelschmerzen sind die häufigsten Beschwerden. Meistens sind die zwar unangenehm, aber nur mäßig ausgeprägt. Dass deshalb das Mittel abgesetzt werden muss oder eine schwere Muskelschädigung auftritt, ist eher selten. Oft reicht es schon aus, die Dosis etwas zu reduzieren, sodass der Patient keine Probleme mehr hat. Es hilft auch, das Muskelenzym Creatinkinase im Blut zu bestimmen, das einen Anhaltspunkt für die Muskelschädigung gibt. Manchmal kann man auch probieren, ob ein anderes Statin besser verträglich ist.

Auch das Risiko für Typ-2-Diabetes soll durch Statine steigen.

Ja, aber es ist ziemlich niedrig. Wenn 255 Menschen vier Jahre lang ein Statin einnehmen, wird statistisch gesehen einer von ihnen zuckerkrank.1 Das wird für mich gerade durch die positiven Effekte bei einem hohen Risiko für Herzinfarkt oder Schlaganfall ganz klar aufgewogen.

Welche Rolle spielen Veränderungen des Lebensstils? Können die eine Alternative zu Medikamenten sein?

Das hängt davon ab: Wenn jemand gerade vor vier Wochen einen Herzinfarkt hatte, kommt er in der Regel mit einer Reihe von Medikamenten aus der Klinik. Mit ihm über körperliche Bewegung zu sprechen, ist sicherlich wichtig. Ebenso wichtig ist aber die Frage, ob er die Medikamente weiter einnehmen soll. Ihre Effekte sind in diesem Fall ziemlich groß. Deshalb entscheiden sich die meisten Patienten dafür, die Medika­mente weiter zu nehmen und parallel körperlich aktiv zu sein.

Und bei niedrigem Risiko?

Eine 40-jährige Frau, die raucht, hat vielleicht ein 10-Jahres-Risiko von 5%. Das ist sehr niedrig

Außer den Statinen gibt es noch einige weitere Lipidsenker. Welchen Stellenwert haben die?

Neben den Statinen sehe ich nur für Ezetimib eine gewisse Relevanz. Hier weiß man, dass es nicht nur den Cholesterinwert senkt, sondern das Risiko für Herzinfarkt und Schlaganfall – auch wenn der Effekt nicht überwältigend ist. Über die neue Gruppe der PCSK9-Hemmer, das sind die Wirkstoffe Evolocumab und Alirocumab, wissen wir bisher nur, dass sie das LDL-Cholesterin sehr deutlich senken. Uns fehlen Langzeitstudien. Wenn die vorliegen, wird sicherlich auch die Diskussion um die Zielwerte nochmal losgehen. Und da sind wieder kommerzielle Interessen im Spiel. Bei den Statinen spielen die in-zwischen keine Rolle mehr, weil bei den meisten Wirkstoffen inzwischen die Patente ausgelaufen sind. Dadurch geht die Werbung für die Mittel zurück, und gewisse Vertreter der Fachöffentlichkeit schweigen über die Medikamente, weil sie von den Herstellern keine Vortragshonorare und andere Begünstigungen mehr bekommen. Das verändert sich erst wieder, wenn ein neues patentgeschütztes Medikament auf den Markt kommt, mit dem der Hersteller große Gewinne machen kann.

Vielen Dank für das Gespräch!

Die Bedeutung von Grenz­werten
In diesem GPSP Heft ab S. 5

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– Gute Pillen – Schlechte Pillen 01/2017 / S.19