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© Gina Sanders/ fotolia.com

Noch gesund oder schon krank?

Wenn Grenzwerte immer niedriger werden

Für die Diagnose einer Erkrankung sind häufig auch Messwerte wichtig. Die Grenzen, ab denen Werte als krankhaft gelten, sind in den letzten Jahren in vielen Fällen gesenkt worden. Ob der Patient oder die Patientin tatsächlich davon profitiert, ist aber oft fraglich.

Im Idealfall wäre es ganz einfach: Innerhalb eines bestimmten Bereichs von Blutdruck, Blutzucker oder Körpergewicht ist ein Mensch gesund, bei Abweichungen eindeutig krank. Und wenn die Werte wieder auf das „normale“ Niveau gebracht werden, kann nichts mehr passieren.

Das Leben ist jedoch deutlich komplexer: Viele Laborwerte zeigen nicht eindeutig eine Krankheit an, sondern sind sogenannte Risikofaktoren (GPSP 6/2016, S. 4). So steigt mit zunehmendem Blutdruck oder bei erhöhten Blutzuckerwerten die Wahrscheinlichkeit, in der Zukunft einen Schlaganfall zu bekommen – oder dass die Niere oder die Netzhaut des Auges Schaden nimmt.

Keine klare Grenze

Dabei gilt in der Regel: Je höher der gemessene Wert, desto höher das Risiko. Aber eine klare Grenze, oberhalb derer das Risiko rapide zunimmt oder unterhalb derer die Wahrscheinlichkeit für ein unerwünschtes Ereignis gleich Null ist, existiert meist nicht. Deshalb ist es häufig schwierig, Grenzwerte überhaupt zu definieren. Das gilt für die Frage, ab wann überhaupt eine Krankheit vorliegt, ab wann sie behandelt werden sollte und welche Zielwerte anzustreben sind. Wenn Experten Grenzwerte in Leitlinien für Ärzte festlegen, stützen sie sich zwar häufig auf klinische Studien. Meist gibt es bei der Interpretation aber deutlichen Spielraum. Deshalb ist jeder Grenzwert letztlich eine manchmal zu scharfe und damit etwas willkürliche Festlegung.

Abgesenkte Grenzwerte

In den letzten Jahren wurden die Grenzwerte für die Diagnose bestimmter Krankheiten oder Risikofaktoren immer weiter gesenkt. Manchmal beruhte das auf ­neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen, manchmal nur auf einer veränderten  Risikoeinschätzung in medizinischen Gremien. Dabei kann etwa eine Rolle spielen, ab wann Ärzte die Wahrscheinlichkeit für einen Schlaganfall für so bedeutsam halten, dass sie einen Menschen mit leicht erhöhtem Blutdruck sicherheitshalber behandeln wollen. Aber ihre Einschätzungen stimmen nicht immer mit den Bedürfnissen der Betroffenen überein und können durch Vieles beeinflusst werden. Beunruhigend ist eine Untersuchung, die einen Zusammenhang zwischen verschärften Grenzwerten – die mehr Menschen zu Kranken erklärt – und finanziellen Verbindungen von Leitlinienautoren zur Pharmaindustrie aufgezeigt hat.1 Die kann dann natürlich viel mehr Arzneimittel verkaufen.

Die Prä-Epidemie

Manchmal führen neue Definitionen sogar dazu, dass sie Risikofaktoren bereits als „echte“ Erkrankung einstufen. Zum Beispiel spricht man heute von einem „Prä-Diabetes“, wenn Blutzuckerwerte zwar etwas oberhalb der Norm liegen, aber noch unter dem Grenzwert für die Zuckerkrankheit. Das lässt die Zahl der potenziell Betroffenen enorm wachsen – und schon sprechen Fachwelt und Medien von einer Epidemie. Auch eine „Prä-Hypertonie“ mit leicht erhöhten Blutdruckwerten oder eine „Prä-Demenz“ mit leichten Gedächtnisdefiziten werden inzwischen als „krankhaft“ angesehen.
Die Krux dabei: Patienten mit diesen vermeintlichen Krankheitsvorstufen haben zwar ein erhöhtes Risiko, werden aber womöglich nie erkranken. Bei einem „Prä-Diabetes“ etwa unterscheidet sich das Risiko übrigens auch in Abhängigkeit davon, wann der Blutzucker erhöht ist. Bei mäßig erhöhten Werten nach dem Essen sind auch zehn Jahre später noch mehr als 50% der Menschen nicht zuckerkrank. Bei erhöhten Nüchternwerten haben nach zehn Jahren sogar mehr als zwei Drittel keinen Diabetes.2

Umstrittene Werte

Wie unsicher die Grenzwerte sind, zeigen internationale Unterschiede beim Nüchternblutzucker. Auch wenn die Experten einheitlich ab 126 mg/dl von Diabetes sprechen, ist die Grenze für eine leichtere Störung des Zuckerstoffwechsels umstritten: Die US-amerikanische Diabetesgesellschaft hält bereits Werte ab 100 mg/dl für nicht mehr normal, die Weltgesundheitsorganisation WHO hingegen erst ab 110 mg/dl.

Erhöhte Krankheitslast

Solche scheinbar kleinen Unterschiede bedeuten für den Einzelnen, dass er entweder als „noch gesund“ oder als „schon krank“ eingestuft wird – mit allen medizinischen und psychischen Folgen. Auch das Gesundheitssystem bekommt Grenzwertverschiebungen zu spüren. Für die USA wurde berechnet, dass je nach Grenzwertziehung entweder knapp 7% oder bis zu 25% einen „Prä-Diabetes“ haben. Die Fokussierung auf „Prä-Erkrankungen“ bedeutet aber auch, dass für die Versorgung „echter“ Patienten weniger Ressourcen zur Verfügung stehen. Hinzu kommt, dass neu definierte Krankheitsvorstufen häufig umfangreiche Früherkennungsprogramme nach sich ziehen. Dabei ist es nicht immer klar, ob das Patienten nützt oder schadet.

Konsequenzen für Behandlung?

Fraglich ist nämlich, ob sich durch die Diagnose einer „Prä-Erkrankung“ die Behandlung verbessert. Bei einem Prä-Diabetes raten Experten in erster Linie zu Veränderungen des Lebensstils: gesündere Ernährung, mehr Bewegung, Rauchen einstellen. Alles Ratschläge, die auch für Menschen ohne das Etikett „Prä-Diabetes“ gelten. Ob das Wissen um ein erhöhtes Risiko dabei die Motivation erhöht, gesünder zu leben, ist nicht belegt.3

Umstritten ist bisher, ob bei „Prä-Diabetes“, schon Medikamente geschluckt werden sollten. Denn Menschen, die Metformin vorbeugend einnehmen, können die Diagnose „Diabetes“ meist nur um wenige Jahre hinauszögern. Allerdings müssen sie das Mittel dann sowieso einnehmen – nun zur Behandlung des Diabetes. Gewonnen haben die Patienten wahrscheinlich nichts, müssen aber unter Umständen schon unnötig früh unerwünschte Wirkungen des Arzneimittels in Kauf nehmen.

Was folgt daraus?

Noch bevor Ihr Arzt oder Ihre Ärztin für die Bestimmung von Laborwerten Blut abnimmt, sollten Sie fragen, ob und welche Konsequenzen sich ergeben können. Bei erhöhten oder zu niedrigen Laborwerten
lohnt es unbedingt nachzufragen, wie hoch das Risiko für eine tatsächliche Erkrankung ist. Und wenn ein Arzneimittel verschrieben werden soll, sind weitere Fragen angebracht: Welche Prog­nose habe ich, wenn ich kein Medikament einnehme oder nur meinen Lebensstil verändere? Mit welchen unerwünschten Wirkungen muss ich rechnen, wenn ich mich für ein Medikament entscheide? Letztere Frage ist besonders wichtig, wenn das Risiko zu erkranken gering ist.

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– Gute Pillen – Schlechte Pillen 01/2017 / S.05