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© baona iStock

Im Krankenhaus: Besser gemeinsam entscheiden

Wie Patient:innen bei der Behandlung mitbestimmen können

Das Projekt „Share to Care“ testet seit 2017, wie sich das Prinzip der gemeinsamen Entscheidungsfindung im Klinikalltag der Uniklinik Schleswig-Holstein umsetzen lässt.

Operieren oder nicht? Medikament A oder Medikament B, oder doch lieber keins? Entscheidungen über die eigene Gesundheit sind oft kompliziert. Es braucht dafür Wissen über die Erkrankung, über die Vor- und Nachteile der unterschiedlichen Behandlungsmöglichkeiten – inklusive Nichtstun – und die Möglichkeit, das alles in Ruhe abzuwägen und mit Arzt oder Ärztin zu besprechen. Das wollen nicht alle Patient:innen, aber doch viele. Und das Recht darauf ist seit 2013 auch im Patientenrechtegesetz verankert. Das Konzept nennt sich gemeinsame Entscheidungsfindung oder kurz SDM (Abkürzung für den englischen Namen: Shared Decision Making).1

Die gemeinsame Entscheidungsfindung eignet sich grundsätzlich für alle Situationen, bei denen es mehrere Optionen für Behandlungen gibt – inklusive Nichtstun oder Abwarten – und die Therapie nicht unmittelbar starten muss. Also eher zum Beispiel bei planbaren Eingriffen als in der Notfallmedizin. Trotzdem wird gemeinsame Entscheidungsfindung in Deutschland noch nicht systematisch umgesetzt.

Was ist „Share to Care“?

Um das Prinzip der gemeinsamen Entscheidungsfindung erstmals in einem kompletten Krankenhaus zu etablieren, startete 2017 das Modellprojekt „Share to Care“ am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Kiel. Gefördert wurde das Projekt durch den Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA), der Pilotprojekte für eine bessere Gesundheitsversorgung fördert. Um die Idee systematisch im Klinikalltag zu verankern, besteht das Gesamtpaket aus vier Komponenten:

  1. Patient:innen erhalten Zugang zu Online-Entscheidungshilfen, die neben Erklärungen in Textform auch Videos und Animationen umfassen. Die Entscheidungshilfen unterstützen die Betroffenen beim Abwägen von Nutzen und Risiken bei Behandlungen und Untersuchungen. Die Entscheidungshilfen stehen auch außerhalb der Klinik zur Verfügung, sodass Patient:innen sie in Ruhe studieren können.
  2. Angehörige von Gesundheitsberufen werden zu „Decision Coaches“ ausgebildet. Diese Fachkräfte unterstützen Patient:innen dabei, die Entscheidungshilfen zu nutzen und mit deren Hilfe die verschiedenen Optionen abzuwägen, bevor im Gespräch mit Arzt oder Ärztin die Behandlungsentscheidung fällt.
  3.  In der Klinik werden Elemente platziert, die Patient:innen die Vorteile der gemeinsamen Entscheidungsfindung erklären. Dazu gehören zum Beispiel Broschüren, Plakate und Videos.
  4. Ärztinnen und Ärzte nehmen an Kommunikationstrainings teil, um die Gespräche mit Patient:innen zu verbessern und im Sinne der gemeinsamen Entscheidungsfindung gestalten zu können.

Lässt sich die gemeinsame Entscheidungsfindung umsetzen?

Um herauszufinden, wie sich „Share to Care“ auf den Klinikalltag, die Behandlungsqualität und die Kosten auswirkt, wurde das Projekt unabhängig wissenschaftlich begleitet. Forscher:innen von der Technischen Universität München werteten aus, ob das Konzept praktikabel war, ob es die gewünschten Effekte zeigte und ob sich die Investitionen in Höhe von rund 14 Millionen Euro gelohnt haben.2 Im Rahmen von „Share to Care“ wurden insgesamt 80 Entscheidungshilfen produziert und in 19 von 22 Kliniken der Uniklinik Schleswig-Holstein am Standort Kiel eingesetzt. Davon durchliefen 17 das Programm erfolgreich: In diesen Abteilungen wurden 80 Prozent der Ärzte und Ärztinnen in Sachen Kommunikation geschult und 80 Prozent der Pflegefachpersonen durchliefen eine Basisschulung, um Patient:innen aktivieren zu können. Wegen der Corona-Pandemie war das zwar weniger als geplant, dennoch sprachen sich die in der Evaluation befragten Mitarbeiter:innen dafür aus, das Projekt fortzuführen. Das ist ein Hinweis dafür, dass auch die Mitarbeitenden den Eindruck haben, von der gemeinsamen Entscheidungsfindung zu profitieren und sich das Konzept auch in größeren Gesundheitseinrichtungen umsetzen lässt.

Was bringt das Projekt?

Bei der Evaluation wurde außerdem beurteilt, ob und wie viel „Share to Care“ die gemeinsame Entscheidungsfindung von Patient:innen und medizinischem Team verbessert. Die Forscher:innen befragten dazu die Beteiligten mithilfe eines validierten Fragebogens, der misst, wie gut die gemeinsame Entscheidungsfindung gelungen ist. Verglichen wurden die Werte vor dem Start des Projekts sowie sechs und 18 Monate später. Es zeigte sich, dass durch „Share to Care“ Patient:innen besser an Behandlungsentscheidungen beteiligt waren. Allerdings blieb der Anstieg etwas unterhalb der Erwartungen der Projektleitung. Der Effekt wurde als klein bis mittelgroß eingestuft, blieb aber über den gesamten Untersuchungszeitraum von 18 Monaten bestehen. Außerdem zeigte sich, dass das Projekt die Kommunikation zwischen Arzt, Ärztin und Patient:innen verbesserte. Dazu verglichen Bewertungspersonen die teilnehmenden Kliniken mit einer nicht teilnehmenden Klinik, indem sie Fragebögen und Gesprächsvideos analysierten. Die Zeit für das Kommunikationstraining war offenbar gut investiert, da dadurch am Ende Gespräche mit Patient:innen besser strukturiert waren und bei höherer Zufriedenheit aller Beteiligten kürzer dauerten.

Lohnen die Kosten?

Das Projekt kostete pro Patient:in 122 Euro. Allerdings fielen im weiteren Behandlungsverlauf mehr als 800 Euro niedrigere Kosten für Krankenhausbehandlungen an als bei Patient:innen, die in Kliniken ohne gemeinsame Entscheidungsfindung behandelt wurden. Außerdem mussten weniger Patient:innen notfallmäßig behandelt werden. Wenn man alle Kosten der stationären und ambulanten Behandlung zusammenrechnet, gibt es jedoch keinen Unterschied.

Wie geht es weiter?

Eine große Krankenkasse hat sich aufgrund der positiven Ergebnisse der Evaluation dazu entschlossen, einen Selektivvertrag mit dem Universitätsklinikum Schleswig-Holstein abzuschließen. Die einzelnen Abteilungen erhalten also ein Sonderhonorar, wenn sie die entsprechenden Schulungen durchlaufen haben und Versicherten der Krankenkasse die gemeinsame Entscheidungsfindung anbieten. Nach dem Ende der Projektförderung berät derzeit der G-BA, ob das Konzept von „Share to Care“ auch für alle anderen Krankenhäuser empfohlen werden soll. In Bremen wird ein angepasstes Konzept gerade in Hausarztpraxen erprobt.

  1. Dieser Beitrag erschien in einer ausführlicheren Fassung in drei Teilen im Online-Magazin Plan G: Gesundheit verstehen. www.riffreporter.de/de/magazine/plan-gesundheit (Abruf 14.9.2022)
  2. Geiger F (2022) Ergebnisbericht Vollimplementierung von Shared Decision Making im Krankenhaus. (Abruf 14.9.2022)

 

Wer die Wahl hat

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– Gute Pillen – Schlechte Pillen 06/2022 / S.18