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Je mehr, desto besser?

Kritikwürdige Empfehlungen bei erhöhten Blutfettwerten

Eine neue europäische Leitlinie zur Behandlung von Fettstoffwechselstörungen enthält eine Reihe fragwürdiger Empfehlungen. Welche Rolle spielen dabei die zahlreichen Verbindungen der beteiligten Experten zur Pharmaindustrie?

Herz-Kreislauf-Erkrankungen gehören zu den führenden Todesursachen. Grundsätzlich ist es deshalb sinnvoll, Risiken zu reduzieren, damit es zum Beispiel erst gar nicht zum Herzinfarkt oder zu einem Schlaganfall kommt (Primärprävention). Zu diesen Risikofaktoren gehören etwa Rauchen, hoher Blutdruck oder erhöhte Cholesterinwerte. Um die Gefahr für einen Herzinfarkt oder Schlagfall abzuschätzen, werden diese Risikofaktoren gemeinsam betrachtet. Ein erhöhter Cholesterinwert allein ist – von wenigen Ausnahmen abgesehen1 – in der Regel nicht medikamentös behandlungsbedürftig, wenn Herz und Kreislauf bisher gesund sind.2

Ab wann behandeln?

Ergibt sich in der Gesamtschau ein erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, werden zur Vorbeugung oft Medikamente eingesetzt, wenn andere Maßnahmen wie ein Rauchstopp, Gewichtsreduktion und/oder mehr Bewegung nicht ausreichen. Kontrovers wird jedoch seit vielen Jahren diskutiert, ab wann genau das bei erhöhten Cholesterinwerten nötig ist. Kein Wunder: Denn das Risiko für Gefäßerkrankungen steigt kontinuierlich an. Es gibt also keine scharfe Grenze, ab der vieles für eine vorbeugende Einnahme spricht.

Bei der Entscheidung für oder gegen Medikamente spielen deshalb auch immer die persönlichen Lebensvorstellungen eine Rolle: Möchte ich ein relativ kleines Risiko um jeden Preis vermeiden und nehme dafür auch mögliche medikamentöse Nebenwirkungen in Kauf? Oder ist es mir wichtiger, ohne Tabletten auszukommen und bin ich deshalb bereit, ein gewisses Gesundheitsrisiko einzugehen? Aus diesem Grund ist es gerade bei der Vorbeugung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen wichtig, mit Arzt oder Ärztin die körperlichen Befunde und die persönlichen Einstellungen gemeinsam abzuwägen.

Nur noch Behandlungs­bedürftige?

Ungeachtet der notwendigen Abwägung von Nutzen und Schaden im Einzelfall: In den letzten Jahren sind die ärztlichen Empfehlungen zur Cholesterinsenkung immer weiter ausgedehnt worden, sodass immer mehr Menschen angeraten wird, Blutfettsenker einzunehmen.3

Eine aktuelle europäische Leitlinie stellt einen neuen Rekord auf: So führt sie zahlreiche Faktoren ins Feld, mit denen eine höhere Risikoeinstufung begründet wird. Das kann so weit gehen, dass eine zufällig gefundene Gefäßverengung in der Halsschlagader als genauso riskant wie ein vorangegangener Schlaganfall gewertet wird. Ob Patientinnen und Patienten mit einer solchen Verengung eine medikamentöse Behandlung aber tatsächlich nützt, ist unklar – denn aussagekräftige Studien zu dieser Frage fehlen.4

Je niedriger, desto besser?
Auch in einem weiteren Punkt vertritt die europäische Leitlinie den Ansatz „Viel hilft viel“: Während der Behandlung sollen Arzt oder Ärztin regelmäßig die Cholesterinwerte messen und die Medikamente so anpassen, dass die in der Leitlinie genannten Zielwerte erreicht werden. Diese Strategie ist jedoch höchst umstritten: Denn es gibt keine guten Belege aus Studien, dass die ständige Anpassung wirklich zu eindeutig weniger Herzinfarkten, Schlaganfällen oder Todesfällen führt. Ob es also tatsächlich vorteilhaft ist, während der Behandlung regelmäßig die Cholesterinwerte zu kontrollieren, ist unklar.5,6

Umstritten: zusätzliche Blutfettsenker

Die propagierte Zielwert-Strategie wirkt sich aber auch auf weitere Leitlinien-Empfehlungen aus: Etablierte Medikamente bei hohen Cholesterinwerten und weiteren Risiken für Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind die Statine. Sie verhindern nachweislich nicht nur Herzinfarkte und Schlaganfälle, sondern senken auch die Sterblichkeit. Der Nutzen hängt aber stark davon ab, wie hoch das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen insgesamt ist

Werden während der Behandlung mit Statinen die Cholesterinwerte regelmäßig kontrolliert und dabei die empfohlenen Zielwerte nicht erreicht, empfiehlt die europäische Leitlinie zusätzlich neuere Wirkstoffe zur Blutfettsenkung (Ezetimib, Evolocumab). Die sind jedoch deutlich schlechter untersucht als die Statine und können nach derzeitigen Ergebnissen zwar Herzinfarkte, aber keine Todesfälle verhindern – obwohl sie die Cholesterinwerte weiter senken. Das schürt weitere Zweifel daran, ob die Kontrolle der Cholesterinwerte – und gegebenenfalls eine zusätzliche Behandlung mit weiteren Cholesterinsenkern, wenn die Zielwerte nicht erreicht werden – tatsächlich relevante Vorteile bietet.

Blick hinter die Kulissen

Wie sind die Empfehlungen der europäischen Leitlinie zustande gekommen, wenn die Belege aus Studienergebnissen so dünn sind und auch einiges eher für eine andere Vorgehensweise spricht? Eine unserer Mutterzeitschriften, DER ARZNEIMITTELBRIEF, hat hinter die Kulissen geschaut:7 Die Verfasser der europäischen Leitlinie haben viele etablierte Regeln, wie man eine gute Leitlinie erstellt, schlicht ignoriert. Es ist beispielsweise unklar, ob die wissenschaftliche Literatur systematisch ausgewertet wurde. Wie die Empfehlungen aus den zitierten Studien abgeleitet werden, ist oft nicht nachvollziehbar. Auch fehlen konkrete Angaben, zu den Arbeitsschritten, wie die Leitlinie zustande gekommen ist. Das lässt Zweifel an der Unabhängigkeit und Unvoreingenommenheit der Verfasser und damit auch an der Verlässlichkeit der Empfehlungen aufkommen.

Wes Brot ich ess…

Ein Blick auf die Erklärungen der 21 Leitlinien-Autoren zu Interessenkonflikten verstärkt die Zweifel: Nur zwei sind nicht mit der Pharmaindustrie verbandelt. Rund 70 Prozent geben Interessenkonflikte mit den Herstellern der in der Leitlinie angepriesenen neueren Medikamente zur Cholesterinsenkung an. Auch die europäische Kardiologen-Gesellschaft, die die Leitlinie herausgibt, speist den größten Teil ihres Jahresetats direkt oder indirekt aus Industriegeldern.

Schäden durch die Leitlinie

Das legt tatsächlich den Schluss nah, wie es DER ARZNEIMITTELBRIEF formuliert, dass es sich bei der Leitlinie nicht – wie es sein sollte – um eine unabhängige hochwertige Aufbereitung der verfügbaren Studiendaten handelt, sondern um ein „interessengeleitetes Positionspapier einer industrienahen Fachgesellschaft“. Das könnte man im Wesentlichen einfach ignorieren – wäre nicht zu befürchten, dass die behandelnden Ärztinnen und Ärzte den fragwürdigen Empfehlungen vertrauen und dass diese doch ihren Weg in die Versorgung finden. Dann besteht nicht nur die Gefahr, dass Geld des Gesundheitssystems – und damit aller Versicherten – verschwendet wird, sondern auch die Zeit von Patientinnen und Patienten. Sie werden unnötigen Risiken durch eine primär vorbeugende und in ihrem Nutzen nicht gut belegte medikamentöse Behandlung aus­gesetzt.

Cholesterin nicht dämonisieren
GPSP 1/2017, S. 19

Grenzwerte
GPSP 1/2017, S. 5

Ezetimib
GPSP 6/2015, S. 25

Evolocumab
GPSP 5/2017, S. 10

Gemeinsam entscheiden
GPSP 6/2016, S. 19

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– Gute Pillen – Schlechte Pillen 02/2020 / S.04