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Ist Vorsorge immer sinnvoll?

Zwei Bücher zum Thema Früherkennung

Vorsorgeuntersuchungen sind in Deutschland ziemlich populär. Ob Brustkrebs, Prostata oder Cholesterinspiegel, viele gehen zu ihrem Arzt oder ihrer Ärztin und lassen sich sicherheitshalber unter­suchen. Was nutzt es?

Wer sich nach einem solchen Check auf der sicheren Seite fühlt und meint, er habe nun vorgesorgt, überschätzt möglicherweise den Nutzen von Früherkennungsuntersuchungen. Und schaden können sie mitunter auch. Das ist die Quintessenz von zwei Büchern zum Thema, die wir für Sie gelesen haben.

„Unsinn Vorsorgemedizin“

So lautet der Titel des Buches der Medizinerin und Gesundheitswissenschaftlerin Prof. Dr. Ingrid Mühlhauser. Ihr Statement klingt radikal. Sie relativiert es aber mit dem Nachsatz: „Wem sie nützt, wann sie schadet“. Dennoch kommt es der Autorin darauf an, falsche Erwartungen geradezurücken. Am Beispiel der Krebsfrüherkennung zeigt sie die Schattenseiten der Vorsorgemedizin. Der Nutzen wird zu optimistisch beurteilt, und es kann falsch positive Befunde geben, also einen Alarm, obwohl in Wirklichkeit gar keine ernsthafte Erkrankung besteht.

Viele Frauen – und übrigens auch viele Ärzte – schätzen den Nutzen der Mammografie zu hoch ein. Das liegt auch daran, dass fast immer nur das relative Risiko angegeben wird. Etwa so: Die Wahrscheinlichkeit an Brustkrebs zu sterben, lässt sich um 25% reduzieren. Was bedeutet das in nackten Zahlen? In einem Zeitraum von zehn Jahren sterben von 1.000 Frauen vier an Brustkrebs. Gehen alle regelmäßig zur Mammografie, ist es eine weniger: Statt vier sind es drei Frauen. Das ist eine Reduktion um 25%. Es klingt aber deutlich weniger beeindruckend.

Auf der anderen Seite: 999 Frauen profitieren nicht von der Untersuchung. 50 Frauen müssen eine Gewebeentnahme zur weiteren Abklärung eines unklaren Befunds ertragen. Und für 5 bis 7 von 1.000 Frauen lautet die Diagnose Brustkrebs, obwohl sie ihn gar nicht haben. Das führt zu unnötigen Behandlungen, die belastend sind und sogar zu ernsthaften Schäden führen können.

Je seltener eine Erkrankung ist, desto häufiger gibt es falsche Befunde, selbst wenn der Test relativ genau ist. Die Fahndung nach den tatsächlich Erkrankten gleicht dann der Suche nach der sprichwörtlichen Nadel im Heuhaufen. Der schwarze Hautkrebs (Melanom) dient der Autorin als Illustration: Wenn 100.000 Personen sich testen lassen, werden 40 Melanome erkannt und gleichzeitig 10 trotzdem übersehen. (Das sind falsch negative Befunde.) Aber 2.360 mal wird ein Melanom diagnostiziert und sehr wahrscheinlich auch behandelt, obwohl gar keines vorhanden war. (Dabei handelt es sich um falsch positive Befunde.)

Ingrid Mühlhauser versteht es in ihrem Buch, die Fallstricke der Statistik, die leicht zu falschen Einschätzungen führen, plastisch und nachvollziehbar darzustellen. Dabei beschränkt sie sich nicht auf Krebserkrankungen. Auch allgemeine Gesundheitschecks oder der Nutzen von anlasslosen Messungen des Cholesterinspiegels nimmt sie unter die Lupe. Eine Lanze bricht sie hingegen für die Blutdruckmessung – sofern die Werte wirklich deutlich erhöht sind und die passenden Konsequenzen gezogen werden.

„Krank durch Früherkennung“

So lautet der Buchtitel des Wissenschaftsjournalisten Frank Wittig. Untertitel: „Warum Vorsorgeuntersuchungen unserer Gesundheit oft mehr schaden als nutzen.“ Er benutzt vielfach die gleichen Beispiele wie Ingrid Mühlhauser – auch die Einschätzungen ähneln sich. Aber der Stil des Buches ist anders. Viele persönliche Erfahrungen aus seinen Recherchen für Fernsehdokumentationen zum Thema sind eingestreut. Manchmal sind diese Berichte aber problematisch, vor allem wenn Patienten über ihre sehr eigenen Erfahrungen berichten. Das lässt zwar die negativen Wirkungen von falschen Diagnosen und unnötigen Behandlungen lebendig werden, aber der Einzelfall beweist ja nicht, wie häufig solche Probleme sind.

Ein Thema, das sich durch Wittigs Buch zieht, sind die wirtschaftlichen Interessen, die hinter dem Vorsorgeboom stecken. Was auch bei Ingrid Mühlhauser eine wichtige Rolle spielt, ist die Feststellung, wie schwer es auch für Fachleute ist, sich von liebgewonnenen Vorstellungen über den vermeintlichen Nutzen zu verabschieden.

Beide Bücher verstehen sich ausdrücklich nicht als Ratgeber pro oder contra Früherkennungsuntersuchungen. Das schmälert nicht ihre Bedeutung. Denn wer besser versteht, was Vorsorge leisten kann und was nicht, wird mit dem Arzt oder der Ärztin über vorgeschlagene Früherkennungsmaßnahmen produktiver reden. Und danach fällt eine Entscheidung für oder gegen eine Untersuchung meist leichter.

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– Gute Pillen – Schlechte Pillen 05/2018 / S.25