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Des Kaisers neue Kleider?

Felix Hasler: Neuromythologie. Eine Streitschrift gegen die Deutungsmacht der  Hirnforschung. Transcript
Verlag Bielefeld (2013, 3. Aufl.). 264 Seiten, 22,80 €

Felix Hasler nimmt mit seiner Streitschrift zum Thema Hirnforschung ein äußerst spannendes Kapitel der jüngsten Wissenschaftsgeschichte unter die Lupe. Am 1. Januar 1990 rief George Bush senior die globale „Dekade des Gehirns“ aus. Das war der Startschuss für einen beispiellosen Aufschwung der Neurowissenschaften. Milliarden Dollar wurden in die Hirnforschung gepumpt, begleitet von einem Medienrummel, der nur vergleichbar ist mit den hochgespannten Erwartungen an die Entschlüsselung des menschlichen Genoms.

Für eine zunächst völlig kritiklose Interpretation und Vermarktung auch ganz widersprüchlicher Ergebnisse der Neurowissenschaftler sorgten vor allem die bunten Bilder des Hirn-Innenlebens, die mittels der funktionellen Magnet resonanztomografie (fMRT) erzeugt werden. Man konnte zusehen, dass sich im Gehirn „was tut“, wenn Versuchspersonen Rechenaufgaben lösen, Liebeskummer haben oder meditieren. Auch Psychologie, Soziologie und Philosophie erlagen teilweise der Faszination von des Kaisers neuen Kleidern. Einflussreiche Hirnforscher wie Wolf Singer oder Gerhard Roth ersetzen das frühere „Psycho- Gebrabbel“ aus den Zeiten der psychoanalytischen Verseuchung des Alltags und vieler Forschungsdisziplinen durch modernes „Bio-Gebrabbel“. Hasler schreibt: Früher „sprach man von Komplexen, Abwehr, Narzissmus, Ganzheitlichkeit oder Projektion. Und wenn sonst nichts mehr half, wurde das unergründliche Unbewusste aufs Tapet gebracht. “ Und heute werde jedes „Unbehagen nun auf den Körper selbst, insbesondere auf ein spezielles Körperorgan – das Gehirn – abgebildet“. Singer und Roth werden nicht müde zu sinnieren, dass nunmehr die Idee der menschlichen Willensfreiheit zu Fall gebracht sei, dass der Mensch neue „Demut“ lernen müsse, ja, dass eine neue Neuro-Ethik zu begründen sei und diese das ganze Strafrecht zu revolutionieren habe. Felix Hasler widerspricht vehement.

Er entzaubert in seinem Buch diese moderne Pseudomythologie gründlich und kann dies mit Sachkenntnis tun, weil er selbst jahrelang als Pharmazeut in einer angesehenen neurowissenschaftlichen Forschergruppe tätig war.

Der Autor seziert die wissenschaftliche Haltlosigkeit vieler derzeit gängiger Behauptungen. Etwa in Sachen fMRT die Grundannahme, dass bestimmte geistige Funktionen an bestimmte Hirnareale geknüpft sind. Diese Idee beschreibt der Buchautor als überholt, obwohl sie nicht aus der Welt zu schaffen ist, seit der französische Arzt Paul Broca (1824-1880) herausfand, dass das Sprechen als Aneinanderreihung von Wörtern nicht mehr gelingt, wenn ein bestimmtes Hirnareal zerstört ist. „Von der Vorstellung, auch komplexe geistige Funktionen seien an bestimmten Orten im Gehirn fest verankert, ist man eigentlich schon vor Jahrzehnten abgerückt.“ Höhere geistige Leistungen werden von Netzwerken im Gehirn vollbracht, die flexibel sind und sich neu strukturieren können. Das erklärt Hasler am Beispiel eines Mädchens, dessen linke Hirnhälft auf Grund epileptischer Anfälle im Alter von drei Jahren chirurgisch entfernt wurde, das heute aber nur unwesentlich Einschränkungen hat. Das in der Kindheit besonders plastische Gehirn hat sich selbst neu organisiert.

Und ganz miserabel sieht es zudem mit der Wiederholbarkeit von einmal gewonnen Ergebnissen durch fMRT aus, kritisiert der Autor.

Er beschreibt auch packend den mächtigen Einfluss eines „dicht verwobenen Konglomerats“ aus privatwirtschaftlichen Unternehmen, staatlichen Institutionen der Forschungsförderung, der Pharmaindustrie, der Universitäten und der neurowissenschaftlichen Fachzeitschriften. Die von der Neuro-Lobby als grenzenlos dargestellten künftigen Kontrollmöglichkeiten über unser Leben können gruseln machen: Neue Medikamente, Hirnstimulatoren und Neuroprothesen sollen psychische Störungen heilen; an Flughäfen oder am Zoll werden Hirnscanner als Lügendetektoren aufgestellt; mit neuen Lifestyle-Drogen optimieren wir unsere Befindlichkeit und schaften damit völlig neue gesellschaftliche Verhaltensweisen (mehr zum „Hirndoping“ GPSP 2/2010, S. 12).

Felix Hasler macht plausibel, dass diese umstrittenen Erwartungen vermutlich genauso enttäuscht werden wie die Aussichten auf fantastische Heilungschancen, die im Rahmen des Human Genome Project behauptet wurden – und die inzwischen großer Ernüchterung gewichen sind. Denn von einem wirklichen Verständnis des Gehirns sind wir trotz vieler Detailerkenntnisse noch Lichtjahre entfernt. Viel Geld ist für Projekte verpulvert worden, deren Quintessenz der Autor in Anspielung auf einen Song von Georg Kreisler („Der Halbwilde“)1 karikiert: „Man hat zwar keine Ahnung, wo man hinrennt, tut dies aber immer schneller. “

Es erwartet Sie in jedem Fall eine durchaus anspruchsvolle, aber vor allem spannende und erhellende Lektüre, auch wenn Sie sich nur einzelne Kapitel heraussuchen, wie zum Beispiel über das Verkaufen von Krankheit auf der Basis breit propagierter Neuro-Banalitäten.

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– Gute Pillen – Schlechte Pillen 06/2013 / S.16