Von freien Radikalen und oxidativem Stress
Das Märchen vom Schutz durch Nahrungsergänzung
Frisches Obst und Gemüse statt industriell hergestellter Vitamincocktails in Form von Nahrungsergänzungsmitteln empfahlen wir in GPSP 1/2009 (S. 3). Denn dass solche Präparate den Körper beispielsweise vor aggressiven Stoffwechselprodukten „schützen“, ist bisher nur eine Theorie. Und dass diese stimmt, wird immer unwahrscheinlicher.
Oxidativer Stress und freie Radikale, das sind die Schlagwörter, mit denen seit Jahren Nahrungsergänzungsmittel angepriesen werden. Manchmal wird sogar der Eindruck erweckt, dass solche Produkte für die Gesunderhaltung geradezu zwingend erforderlich sind – so drastisch werden die Schäden durch freie Radikale und oxidativen Stress beschrieben.
Mit freien Radikalen sind in diesem Zusammenhang in Zellen entstehende reaktionsfreudige Sauerstoffverbindungen gemeint, die angeblich zu Krankheiten wie Gefäßverkalkung, Immunschwäche, Alzheimer und Tumoren beitragen und den Körper vorzeitig altern lassen. Je mehr freie Radikale, desto höher soll der zellschädigende oxidative Stress sein – so die Theorie. Anti-Oxidanzienhaltige Nahrungsergänzungen mit z. B. Vitamin E, Enzymen und/oder Pflanzenstoffen wie Anthocyanen sollen solche freien Radikale unschädlich machen. Das Ausmaß von oxidativem Stress untersuchten Wissenschaftler bislang im Labor, indem sie im Extrakt von zuvor zerstörten Zellen bestimmten, wie viel oxidiertes Glutathion darin enthalten ist. Glutathion schützt Zellen vor reaktionsfreudigen Sauerstoffverbindungen, weil es selbst Sauerstoff aufnimmt, also selbst oxidiert wird (oxidiertes Glutathion). Immer wenn große Mengen von oxidiertem Glutathion gefunden wurden, haben Forscher bislang darauf geschlossen, dass die Zellen hohem oxidativen Stress ausgesetzt waren. Oxidiertes Glutathion galt somit als Indikator für oxidativen Stress.
Diese Folgerungen erweisen sich jetzt jedoch als trügerisch und müssen neu überdacht werden. Erstmals haben nämlich Forscher des Deutschen Krebsforschungszentrums (dkfz) das oxidierte Glutathion in völlig intakten Zellen bestimmt. Bei verschiedenen Zelltypen, einschließlich Tumorzellen, stellten sie fest, dass oxidiertes Glutathion überraschenderweise nicht in der Zell#üssigkeit (Zellplasma) bleibt, sondern rasch in Vakuolen entsorgt wird. In diesen bläschenartigen Räumen, die durch eine Membran vom Zellplasma abgegrenzt sind, wird es quasi weggeschlossen.
Dieser Vorgang ist von großer Bedeutung, denn dadurch bleibt das Zellplasma, in dem die Stoffwechselvorgänge der Zelle ablaufen, vor Schäden durch reaktionsfreudige Sauerstoffverbindungen verschont, kommentieren die Forscher aus dem dkfz. Die Menge von oxidiertem Glutathion, das – wie bislang üblich – in zerstörten Zellen bestimmt wurde, erlaubt somit keinen Rückschluss darauf, ob diese Zellen tatsächlich oxidativem Stress ausgesetzt sind oder nicht.1,2
Auch die Annahme, dass die schädliche Aktivität der freien Radikale die Lebensspanne eines Organismus begrenzt, haben die dkfz-Forscher untersucht. Ihre Versuchsreihen mit lebenden Fruchtfliegen (Drosophila), in denen sie die Verbreitung reaktionsfreudiger Sauerstoffverbindungen in den Zellen ermittelten, konnten die altbekannte These nicht bestätigen. Und als die dkfz-Forscher die Fliegen mit einer antioxidativ wirkenden Substanz fütterten, stieg überraschenderweise sogar die Bildung reaktionsfreudiger Sauerstoffverbindungen an.3,4 Es passierte also das Gegenteil von dem, was die Werbung für Antioxidanzien-haltige Nahrungsergänzungen verspricht.
Bei den Ergebnissen aus dem dkfz handelt es sich zwar um Grundlagenforschung, die nicht 1 : 1 auf den Menschen übertragbar sind. Die Versuchsanordnungen der dkfz-Forscher mit intakten und lebenden Zellen sind aber viel näher an der Realität als die bisherigen Untersuchungen an zerstörtem Zellmaterial. Nach den neuen Erkenntnissen schüt zen sich Zellen sehr viel flexibler vor Schäden als bislang behauptet. Die neuen Befunde passen zudem gut zu den klinischen Studien, in denen der erwartete gesundheitsfördernde Effekt von Antioxidanzien ausblieb.5
Verschiedentlich haben wir in GPSP solche ungünstigen Folgen von Antioxidanzien beschrieben (u.a. GPSP 6/2009, S. 14 und 6/2011, S. 14), die den propagierten gesundheitsfördernden Wirkungen widersprechen. In großen und aussagekräftigen Studien fiel beispielsweise bei regelmäßiger Einnahme von Vitamin E ein erhöhtes Risiko auf, eine Hirnblutung (Schlaganfall) zu erleiden, und ein Trend zu mehr Prostatakrebs. Raucher, die Betakarotin schluckten, erkrankten häufiger an Lungenkrebs und starben insgesamt früher (GPSP 1/2011, S. 12). Und Menschen, die wegen Tumoren bestrahlt worden waren und die (zum Schutz) hochdosierte Antioxidanzien eingenommen hatten, lebten nicht länger, sondern tendenziell kürzer. Wir raten daher von Antioxidanzien ab.
Stand: 1. Februar 2013 – Gute Pillen – Schlechte Pillen 01/2013 / S.12