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Tamiflu®: Die Datenlücke

Grippemedikament mit unklarem Nutzen

Millionen Menschen schlucken das Medikament gegen Grippe, Staaten bunkern Riesenvorräte für eine Epidemie – obwohl keiner weiß, ob es wirklich hilft. Es wird Zeit, dass der Hersteller endlich alle Daten zu Nutzen und Risiken auf den Tisch legt.

Die Situation ist skandalös: Oseltamivir (Tamiflu®) gibt es seit vielen Jahren, doch der Hersteller Roche hält seit Jahren die Ergebnisse vieler Studien unter Verschluss. Das macht eine unabhängige Prüfung praktisch unmöglich.

Die US-amerikanische Arzneimittelbehörde FDA hatte Zugang zu den Roche-Daten und bescheinigte nur einen bescheidenen Nutzen gegen lästige Grippebeschwerden. Der Schweizer Konzern darf in den USA nicht behaupten, Oseltamivir helfe, schwere Erkrankungen wie Lungenentzündungen oder Todesfälle zu verhindern. Ebenfalls verboten wurde die Behauptung, es verhindere die Ausbreitung der Grippe.
Was tun gegen Grippe?

  • Wer sich häufiger im Freien aufhält, steckt sich nicht so leicht an.
  • Regelmäßiges Händewaschen kann ebenfalls das Ansteckungsrisiko mindern.
  • Die Grippeimpfung bietet einen gewissen, aber nicht sehr hohen Schutz. Sie wird vor allem für ältere Menschen und chronisch Kranke empfohlen.
  • Wen die Grippe erwischt hat, der sollte sich schonen und Andere möglichst nicht anstecken. Dabei hilft, in ein Taschentuch oder den Ärmel zu niesen oder husten.
  • Grippesymptome wie Kopfschmerzen oder Fieber lassen sich mit einfachen Schmerzmitteln wie Paracetamol (GPSP 3/2012, S. 5) lindern.

In Europa geht mehr

Ganz anders fiel die Entscheidung der europäischen Zulassungsagentur EMA aus, die offenbar keinen Zugang zu den vollständigen Studiendaten hatte: Sie bescheinigte dem Medikament, gegen schwere Grippekomplikationen wie Lungenentzündungen wirksam zu sein. Auch die Cochrane Collaboration (siehe Interview Seite 19), deren Bewertungen den aktuellen Stand des Wissens wiedergeben sollen, wurde 2006 ein Opfer der verheimlichten Daten. Sie bezog eine Überblicksarbeit von Laurent Kaiser und Kollegen in ihre Bewertung mit ein, die zugunsten von Oseltamivir ausfiel. Der Haken an der Sache: Die Hälfte der Autoren der von Roche gesponserten Kaiser-Analyse waren Angestellte des Herstellers und die allermeisten Daten, die sie nutzten, sind unveröffentlicht. Keiner kann sie unabhängig nachprüfen. Trotzdem sprachen sich die Cochrane-Wissenschaftller für Oseltamivir als Notfallmaßnahme bei einer Grippeepidemie aus.1 (GPSP 1/2010, S. 5)

Das war nicht die einzige Fehlentscheidung, die durch die Überblicksarbeit von Kaiser beeinflusst wurde. Selbst die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfahl Oseltamivir bei Grippe – wobei allerdings an der Entscheidung viele Experten beteiligt waren, die mit den Herstellern von Grippemedikamenten verbandelt waren. Und damit nicht genug: Die WHO hat bei der Vogelgrippe und dann bei der Schweinegrippe-Epidemie allen Staaten geraten, große Mengen von Oseltamivir einzulagern.

Nutzlose Vorräte

Etliche Länder – darunter Deutschland – folgten dem Rat und kauften von Roche für Hunderte von Millionen Euro Tamiflu®. Die Haltbarkeit dieser Packungen läuft ab. Gigantische Vorräte müssen – wiederum für viel Geld – entsorgt werden. Ein Abgeordneter im britischen Parlament machte nach der harmlos verlaufenen Schweinegrippewelle den sarkastischen Vorschlag, im Winter Tamiflu® zum Streuen glatter Straßen zu benutzen – dann wäre das Geld nicht ganz umsonst ausgegeben worden.

Inzwischen hat die Cochrane-Gruppe weitere Daten von der europäischen Arzneimittelbehörde erhalten – aber praktisch nichts von Roche. Sie schloss in ihrer Neubewertung Studien aus, bei denen die meisten Daten unveröffentlicht sind und kommt nun zum gleichen Ergebnis wie die US-amerikanische FDA: Das Mittel verringert Grippebeschwerden nur geringfügig. Wie oft Grippekranke in ein Krankenhaus eingewiesen werden müssen, beeinflusst es nicht. Aber Oseltamivir kann Übelkeit und Erbrechen auslösen.

Cochrane fordert Roche nachdrücklich zur Herausgabe aller Studienergebnisse auf. Das fordert jetzt auch das British Medical Journal (BMJ) und macht gleichzeitig allen Firmen Druck. Um derartige folgenschwere Verschleierungen zu verhindern, wird das BMJ ab Januar 2013 nur noch Studien veröffentlichen, wenn der Hersteller alle Ergebnisse auf den Tisch legt.3

Noch bleibt der (lückenhafte) Erkenntnisstand, demzufolge Oseltamivir lästige Grippesymptome um etwa einen Tag verkürzt. Das gilt aber nur im Vergleich mit einem wirkstofffreien Scheinmedikament. Den gleichen Effekt kann aber auch ein preiswertes rezeptfreies Schmerzmittel erzielen (GPSP 3/2007, S. 12).

PDF-Download

– Gute Pillen – Schlechte Pillen 06/2012 / S.11