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„Säuglingskolik“ – oder was?

Wenn das Baby zu viel schreit

Wenn Säuglinge weinen, dann ist das ihr Signal dafür, dass gerade etwas nicht stimmt. Doch manche Babys schreien stundenlang und ohne Unterlass, obwohl ihre Eltern jeden möglichen Anlass geprüft haben und alles in Ordnung zu sein scheint. Passiert das häufiger, meist am späten Nachmittag oder abends, treibt es Eltern in die Verzweiflung. Was wissen wir über die Ursachen von „exzessivem Schreien“, so der medizinische Fachbegriff? Gibt es gesicherte Tipps für Eltern?

Wenn Säuglinge anhaltend schreien, denken viele an „Säuglingskoliken“. Man vermutet das Problem also im Bauchraum: erhöhte Gasmenge im Darm, gestörte Darmbewegungen oder Verstopfung, aber auch eine Kuhmilchallergie, Laktoseintoleranz oder ein Rückfluss von Säure aus dem Magen in die Speiseröhre werden diskutiert. Auch Spannungen im Familienleben werden verdächtigt.

So vielfältig die Hypothesen zu den Ursachen sind, so vielfältig sind die empfohlenen Behandlungsstrategien. Und die teils recht verzweifelten Bemühungen, den kleinen Schreihals zu beruhigen, sind leider nicht immer
erfolgreich.

Fachlichen Rat einholen

Nicht nur wenn Säuglinge der Definition nach exzessiv schreien (siehe Kasten S. 10), sondern auch wenn Eltern überfordert sind, sollten sie eine betreuende Hebamme, die Kinderärztin oder den Kinderarzt darauf ansprechen.

Damit keine behandelbaren oder gar gefährlichen körperlichen Ursachen übersehen werden, wird der Kinderarzt den Säugling gründlich untersuchen. Körperliche Ursachen können beispielsweise eine Mittelohrentzündung, ein Leistenbruch, ein zu kurzes Zungenbändchen mit Folge von Gedeihstörungen, eine behinderte Darmpassage, Stoffwechselstörungen oder starker Juckreiz bei atopischem Ekzem sein.

Was hilft wirklich?

Eltern von „Schreikindern“ erhalten oft von Freunden und Bekannten vielerlei Ratschläge: Sie sollen die Ernährung des Babys oder die der Mutter umstellen. Oder es werden Medikamente empfohlen. Die geplagten Eltern probieren in der Regel Vieles aus, meist ohne spürbaren oder anhaltenden Erfolg.

Wie unbefriedigend die Situation ist, verdeutlicht eine Empfehlung des britischen NICE. Dieses staatliche Institut, das Arzneimittel und Therapien bewertet, schlägt sehr gestressten Eltern vor, ihren Säugling probeweise eine Zeit lang mit einem Arzneimittel zu behandeln, das entblähend wirken soll. Dabei gibt es keinen Beleg dafür, dass das Mittel mehr hilft als ein Scheinmedikament. Das ist doch verkehrte Welt: Da soll also ein Säugling ein Arzneimittel erhalten, damit gestresste Eltern das Gefühl haben, etwas zu tun.

Eine solche Empfehlung trägt unseres Erachtens zur Medikalisierung von kleinen Kindern bei – sogar mit unnützen Arzneimitteln. Zudem kann ein solcher offizieller Tipp die Schwelle senken, bereits Säuglingen Arzneimittel zu geben und dies nicht, weil sie nachgewiesenermaßen krank sind, sondern bloß, weil sie sich auffällig verhalten.

Sinnvoller und immerhin ein Lichtblick für die Eltern ist dieser Hinweis: Schreiepisoden sind an sich harmlos und klingen meist im 4. oder 5. Lebensmonat von selbst ab. Und es gibt noch einen wichtigen Rat: Eltern sollten ihr soziales Umfeld – Großeltern, Geschwister, Freunde – in die Betreuung ihres Kindes einbinden, damit sie selbst zwischendurch Abstand zu ihrem kleinen Schreihals bekommen und sich entspannen können.

Ist das anhaltende Schreien unerträglich, kann es manchmal besser sein, das Kind einmal kurz in sein Bett zu legen, um selbst etwas Abstand zu bekommen. Es gibt viele andere plausibel erscheinende Maßnahmen wie Herumtragen, Hin- und Herwiegen, Reizreduktion, Baden in warmem Wasser, Strukturierung des Tagesablaufs mit regelmäßigen Schlafphasen und anderes mehr.

Was davon tatsächlich hilft, ist jedoch nicht systematisch untersucht. Oder die Studienergebnisse sind widersprüchlich. Unerwünschte Folgen dürften durch solche Maßnahmen allerdings nicht zu befürchten sein. Und manchmal entdecken Eltern für ihr Kind so genau das richtige „Rezept“.

Pucken

Neuerdings ist auch vermehrt davon zu hören, man solle das Kind straff in ein Tuch einwickeln. Dieses „Pucken“ wirkt sich in einer Studie allerdings nicht besser aus als ein strukturierter Tagesablauf oder Reizreduktion, es kann jedoch Nebenwirkungen haben: Pucken fixiert die Beine des Babys und birgt dadurch ein erhöhtes Risiko für Hüftdysplasien. Auch besteht die Gefahr einer Überhitzung oder sogar des plötzlichen Kindstods.

Schreiambulanz

In Deutschland, hauptsächlich in Großstädten, gibt es zahlreiche Schreiambulanzen, in denen vor allem Ärzte, Psychologen, Hebammen und Sozialpädagogen hilflose Eltern beraten und je nach Bedarf auch eine diagnostische Abklärung anbieten. Einerseits sind Gesprächspartner für Eltern von Schreikindern sicherlich wichtig und entlastend, anderseits arbeiten die Ambulanzen mit sehr unterschiedlichen Methoden. In welchem Maße sie tatsächlich helfen, steht infrage.1

Und die Ernährung …

Eine Empfehlung mit langer Tradition an frischgebackene Eltern ist, auf das „Bäuerchen“ zu achten, denn der Säugling kann beim Trinken einiges an Luft mitgeschluckt haben. Deshalb gibt es auch – wen wundert‘s – entsprechende Problemlöser zu kaufen: Flaschen­aufsätze und so genannte Flaschen­systeme – etwa Anti-Kolik-Flaschen wie MAM Anti-Colic. Nur fehlen hin­reichende Belege, dass diese überhaupt nützlich sind.

Bei Babys, die nicht wie empfohlen wenigstens die ersten vier Monate voll gestillt werden, und stattdessen kuhmilchhaltige Produkte bekommen, kann eine Unverträglichkeit hinter Koliken stecken und das Schreien zum Teil erklären. Etwas anderes ist eine Allergie auf Kuhmilchproteine, die sich in Durchfällen und Hautreaktionen zeigen kann.

Ob für nicht gestillte Säuglinge eine „allergenarme“ Flaschennahrung mit speziell behandelten („hydrolysierten“) Milchproteinen (Milumil® HA u.a.) etwas bringt, ist unklar. Obwohl die Produkte zum Teil explizit bei „3-Monats-Koliken“ (Humana® Comfort) angeboten werden, haben die Kollegen der GPSP-Mutterzeitschrift arznei-telegramm® keine Studien gefunden, die Vorteile im Hinblick auf die Schreidauer gegenüber den üblichen kuhmilchbasierten Produkten prüfen. Bei ausgeprägtem Schreien und dem Nachweis einer Kuhmilchallergie kann man es mit „extensiv hydrolysierten“ Zubereitungen (z.B. Aptamil® Pro Expert Pepti) probieren.

Einem „Schreikind“ Flaschenmilch auf Sojabasis zu geben, erscheint nicht empfehlenswert. Denn zum einen ist ein besonderer Nutzen nicht gesichert, zum anderen ist Sojanahrung wegen ihres allergenen Potenzials und des Gehalts an Phytoöstrogenen (pflanzliche Hormone) für Säuglinge problematisch.

Wenig spricht übrigens auch dafür, dass eine stillende Mutter durch eine Umstellung der eigenen Ernährung die Schreidauer relevant beeinflussen kann. Es fehlen schlichtweg überzeugende Studien. Bei all dem Gerede von Laktoseintoleranz (GPSP 3/2011, S. 3) wundert es nicht, dass auch sie zunehmend häufiger als Auslöser für Säuglingskolik ins Spiel gebracht wird. Aber sie ist insgesamt selten.

© SolStock/ iStockphoto.com
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Weitere Angebote

Immer wieder wird der Entschäumer Simeticon (Lefax® u.a.) empfohlen. Doch solche Präparate wirkten in drei Studien nicht besser als ein Scheinmedikament. Homöopathische Präparate, Probiotika oder Kräutermittel werden ebenfalls oft empfohlen, ohne dass es Nutzenbelege gibt. Die wenigen verfügbaren Studien sind von derart schlechter Qualität, dass man daraus keinen Nutzen ableiten kann. Vorsicht ist sogar geboten, da manche Tees die Milchaufnahme im Magen-Darm-Trakt beeinträchtigen und zudem verborgenen Zucker enthalten können.

Auch positive und negative Effekte von chiropraktischen und osteopathischen Maßnahmen sowie von Massage sind unzureichend untersucht.

Die Datenlage zu Akupunktur fällt eher negativ aus: Das Nadeln ist für Säuglinge schmerzhaft. Und da die Anwendung im Prinzip vor allem auf eine Beruhigung der Eltern abzielt, wird sie angesichts des unklaren Nutzens als unethisch eingestuft.1

Fazit

„Schreibabys“ machen es Eltern schwer und von allen Seiten erhalten sie Tipps. Oder sie bekommen Maßnahmen und Produkte angeboten, deren Nutzen überwiegend nicht oder nur unzureichend belegt ist. Das gilt auch für das verbreitete Arzneimittel Simeticon (Lefax® u.a.).

Wenn Eltern vermehrt ihr soziales Umfeld einbinden, werden sie ab und zu entlastet, können Zeit für sich einplanen. Dann ist auch die Gefahr geringer, dass sie ihr Kind schütteln, damit es endlich ruhig ist – mit dem Risiko eines Schütteltraumas. Beruhigend zu wissen: Die an sich harmlosen Schreiattacken klingen im 4. oder 5. Lebensmonat meist von selbst ab.

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– Gute Pillen – Schlechte Pillen 04/2017 / S.09