Zum Inhalt springen

Gewitter im Gehirn

Was wir über Epilepsie wissen sollten

Noch vor rund 20 Jahren hielt immerhin jeder Fünfte die Epilepsie für eine Geisteskrankheit und meinte, dass betroffene Kinder eine Sonderschule besuchen müssten.1 Heute wird die Krankheit zunehmend differenzierter und realistischer gesehen. Das liegt auch an Sendungen wie dem Kieler Tatort mit einer Kommissarin, die trotz ihrer Epilepsie einen guten Job macht. Wir wollten von dem Neurologen Christian Brandt mehr über die Hintergründe der Erkrankung erfahren.

GPSP: Wohl jeder hat eine gewisse Vorstellung von einem epileptischen Anfall: Da liegt jemand am Boden, der von Krämpfen geschüttelt wird und nicht ansprechbar ist. Sind das die wichtigsten Symptome?

Christian Brandt: Genau genommen sind epileptische Anfälle sehr vielgestaltig. Manche sind von außen nicht erkennbar. In der Bevölkerung denkt man häufig nur an den „großen Anfall“, der auch als Grand-Mal-Anfall bezeichnet wird. Er beginnt typischerweise mit einem Schrei, Versteifungen und Zuckungen folgen. Oft beißt sich der Patient auf die Zunge, Speichel fließt … Bis nach ein bis drei Minuten der Betroffene wieder zu sich kommt, entspannt und ansprechbar ist oder in einen Nachschlaf fällt.

Und welche Art von Anfällen bleibt meist unbemerkt?

Manche Menschen empfinden nur ein Kribbeln in den Gliedern oder haben Missempfindungen. Eventuell tritt eine kurze Bewusstlosigkeit ein, aber ohne dass man etwa stürzt oder vom Stuhl kippt. Es kann dabei auch zu Bewegungsautomatismen kommen, etwa zu einem Schmatzen, das der Betreffende nicht abstellen kann. Möglich ist auch, dass die Hände zucken und dass sich die Zuckungen auf die Schultern oder bis in die Beine ausbreiten.

Und kurz darauf ist alles wieder gut?

Ja. Die meisten epileptischen Anfälle, auch die großen, sind rasch vorüber und kein Notfall.

Aber was steckt dahinter? Was passiert im Gehirn?

Die Ursachen sind sehr unterschiedlich und nicht immer klar. Aber man kann generell zwei Formen unterscheiden. Entweder geht der Anfall von einer bestimmten Region im Gehirn aus, dann nennt man ihn auch fokal. Oder es handelt sich um einen generalisierten Anfall, der beide Hirnhälften betrifft.

Was sind die Konsequenzen?

Bei einem fokalen Anfall sehen wir Ärzte Symptome, die sich auf den Ursprungsort im Gehirn zurückführen lassen. Wenn etwa ein Schläfenlappen betroffen ist, dann kann es zu Déjà-vu-Ereignissen kommen. Und wenn der Hinterhauptlappen betroffen ist, dann ist die optische Wahrnehmung gestört – also das Sehen.

Und was passiert bei einem generalisierten Anfall?

Dieser geht manchmal ebenfalls von einer bestimmten Region aus und erfasst dann beide Gehirnhälften. Oder die überbordende Erregung der Nervenzellen betrifft von Beginn an beide Seiten. Man nennt Letzteres einen primären generalisierten Anfall.

Wie kommt es dazu, dass sich im Gehirn eine so starke unkontrollierbare Erregung aufbaut?

Wir kennen nicht alle Ursachen. Aber manchmal handelt es sich um eine angeborene Anlagestörung des Gehirns.

Ein Webfehler? Kann man das so nennen?

Ja, wenn die Entwicklung der Hirnrinde nicht normal verlaufen ist, verwendet man oft das Bild des Webfehlers.

Von Erbkrankheit sprechen Sie nicht?

Nein, auf gar keinen Fall. Es handelt sich um eine erhöhte Anfallsbereitschaft. Die kann durchaus genetische Ursachen haben, wenn in einer Familie häufiger Epilepsie auftritt. Die Anfallsbereitschaft kann, muss aber nicht vererbt werden. Ich würde bei familiärer Häufung durchaus eine humangenetische Sprechstunde empfehlen, wenn ein Kinderwunsch besteht. Wichtig ist insbesondere, dass bei Frauen mit Epilepsie und Kinderwunsch die Medikamente angepasst werden. Manche können dem Ungeborenen schaden, aber es gibt gut geeignete Alternativen.

Welche Ursachen sind außerdem bekannt?

Hirntumoren können epileptische Anfälle verursachen, und nach einem Schlaganfall ist ebenfalls das Risiko erhöht, auch wenn man nie zuvor einen Krampfanfall hatte. Tumoren und Schlaganfälle sind der Grund, dass im Alter von über 60 Jahren Epilepsien zunehmen. Viele treten allerdings in der frühen Kindheit auf. Aber auch Jugendliche oder junge Erwachsene können erstmals betroffen sein.

Gilt man beim ersten epileptischen Anfall schon als Epileptiker?

Nein. Außerdem spreche ich lieber von Menschen mit Epilepsie. Wir müssen uns auch klar machen, dass 5 von 100 Menschen irgendwann einmal einen Anfall haben. In Deutschland hat 1 von 100 die Diagnose Epilepsie, weil er schon zwei Anfälle erlebt hat oder weil er einen hatte und es für diesen eine bestimmte Ursache gibt.

Woran denken Sie?

Etwa an einen Schlaganfall, wenn wir als Folge davon im Kernspintomographen2 Narbengewebe erkennen.

Sie haben gesagt, dass einige Menschen nur einen epileptischen Anfall in ihrem Leben bekommen, aber keine weiteren. Gibt es für Anfälle Risikofaktoren?

Vor vielen Einflüssen ist unser Gehirn gut geschützt. Aber akute Erkrankungen des Gehirns wie Entzündungen, Kopfverletzungen oder eine Stoffwechselstörung können zu einem Anfall führen. Auch für massiven Schlafentzug gilt dies. Da spricht man aber nicht gleich von Epilepsie.

Kann man sagen, dass oft eine gewisse Disposition und Umwelteinflüsse – etwa als Reizüberflutung – zusammenkommen?

Das nehmen viele an, es ist jedoch eher die Ausnahme. Wir untersuchen allerdings, ob jemand empfindlich auf Lichtreize reagiert. Nur ein kleiner Teil der Patienten ist photosensibel. Sie können sich mit einer geeigneten Sonnenbrille schützen. Aber im Allgemeinen spricht nichts dagegen, dass ein junger Mensch mit Epilepsie einen Club mit Diskobeleuchtung besucht.

Es lohnt sich also, nach den auslösenden Faktoren zu fahnden.

Unbedingt. Wer Schlafmangel nicht verträgt, sollte auf einen regelmäßigen Schlaf-wach-Rhythmus achten, wer Alkohol nicht verträgt, nur sehr wenig oder gar nichts trinken. Und wer Medikamente benötigt – und das sind die meisten der rund 800.000 Betroffenen in Deutschland – sollte sie konsequent einnehmen. Denn: Tabletten vergessen, das löst leider häufig einen Anfall aus.

Ohne hier im Detail auf die Mittel einzugehen, Antiepileptika gelten als wichtigste Säule der Behandlung3, anderseits sind sie nicht ohne…

Natürlich gibt es unerwünschte Wirkungen. Aber in der Regel gelingt es spezialisierten Ärzten,4 ein wirksames Präparat zu finden, dessen Nebenwirkungen akzeptabel sind. Manchmal müssen zwei Wirkstoffe kombiniert werden. Doch haben dann etwa drei von vier Patienten keine Anfälle mehr – oder nur sehr selten einen.

Muss man die Medikamente lebenslang einnehmen?

Das hängt von vielen Faktoren ab. Man kann es mit seinen Ärzten besprechen, wenn man etwa drei bis fünf Jahre anfallsfrei ist. Die Befunde etwa aus dem Hirnscan mittels CT oder MRT, von Hirnstromableitungen per EEG, die gesamte Lebenssituation, der Wunsch der Patientin oder des Patienten, all das spielt eine Rolle. Wer zum Beispiel auf ein Auto angewiesen ist, möchte eher nicht riskieren, durch einen erneuten Anfall den Führerschein zu verlieren.

Gibt es viele Einschränkungen im Alltag?

Die Erkrankung ist heute recht gut behandelbar, manchmal nicht nur mit Medikamenten, sondern auch mit einem chirurgischen Eingriff. Wer betroffen ist, kann meist ein weitgehend normales Leben führen. Wenn im Kieler Tatort die Kommissarin allerdings Auto fährt und eine Waffe trägt, obwohl sie mit Anfällen rechnen muss, finde ich das problematisch. Aber es ist natürlich sehr erfreulich, dass die Sendung Epilepsie nicht dramatisiert, sondern zur Enttabuisierung der Erkrankung beiträgt.

Herr Brandt, vielen Dank für das Gespräch. Wir hoffen, ebenfalls zur Enttabuisierung beizutragen und nennen im Kasten (siehe oben) die wichtigsten Tipps, wenn Hilfe erforderlich ist.

PDF-Download

– Gute Pillen – Schlechte Pillen 03/2016 / S.19