Zum Inhalt springen

Der Eindruck täuscht

Warum Arzneimittel überschätzt werden

Ob ein Medikament auf den Markt kommen darf, entscheiden Arzneimittelbehörden, nachdem sie die Studiendaten der Hersteller gesichtet haben. Ausschlaggebend für Zulassungsbehörden wie das deutsche BfArM1 oder die europäische EMA2 sind die klinischen Studien mit Patienten. Es wird das Verhältnis von Wirksamkeit und Schaden einer Therapie abgewogen. Über den tatsächlichen Nutzen eines neuen Wirkstoffs für Kranke sagt die Zulassung allerdings wenig aus.

GPSP: Nach der Zulassung könnte man doch eigentlich die Hände in den Schoß legen und sich freuen, dass es eine weitere Alternative in der Behandlung von Herpes, Diabetes, Bluthochdruck oder Depressionen gibt.

Wieseler: Das wäre falsch. Wenn ein neues Medikament zugelassen wird, ist es noch nicht wirklich abschließend charakterisiert. Auch wenn die Nutzen-Risiko-Bilanz erst einmal positiv ausgefallen ist, müssen weitere Informationen gesammelt werden. Gerade auch was die Sicherheit angeht, erfahren wir durch die vieltausendfache Anwendung nach der Zulassung ständig mehr.

Hat das Konsequenzen?

Durchaus. Wenn etwa neue Nebenwirkungen auftreten oder bekannte sich häufen, muss die Produktinformation einer Firma umgeschrieben werden. Und der Beipackzettel für die Patienten. Notfalls wird ein Medikament auch vom Markt genommen.

Worauf basieren diese Korrekturen nach der Zulassung?

Arzneimittelfirmen wollen die Vorteile ihres Medikaments im Vergleich zu anderen herausstellen und entwerfen entsprechende Studien. Solche Vergleiche offenbaren manchmal unbekannte Risiken eines Präparats. Sie können für ein Unternehmen aber auch erhebliche Wettbewerbsvorteile bringen.

Warum können?

Es ist nur dann ein Vorteil, wenn das eigene Präparat gut abschneidet. Der Haken daran ist, dass Studien mit positivem Ausgang früher und häufiger in Fachjournalen publiziert werden3 und Wissenschaftler mehr davon haben, wenn sie Erfolge publizieren. Es gibt jedenfalls Hinweise, dass Studien mit negativen Ergebnissen weniger häufig zur Veröffentlichung eingereicht werden.4 Für die objektive Bewertung von Arzneimitteln ist das ein Riesenproblem.

Das müssen Sie erklären.

Wer immer sich über Arzneimittel informiert oder andere informieren will, wie zum Beispiel Krankenkassen, Ärzte und Apotheker oder Patienten, der bewertet Arzneimittel auf der Grundlage von Artikeln in Fachjournalen. Wenn aber dort vorrangig positive Studien auftauchen, ist das Bild geschönt. Mit anderen Worten, der Nutzen wird überbewertet und schädliche Nebenwirkungen unterbewertet.

Der Wirkstoff kommt also zu gut weg. Wie lässt sich dieser Effekt denn nachweisen?

Das hat man schon in den 1980er Jahren beim Vergleich von Untersuchungen, die den Aufsichtsbehörden vorlagen, und denjenigen, die publiziert worden waren, erkannt. Als Konsequenz wurden Studienregister eingeführt, die alle klinischen Studien enthalten sollen. Das internationale Clinical Trials Register5 ist ein solches Register. In den USA sind seit 2008 alle Firmen, die in den USA Medikamente anbieten, gesetzlich verpflichtet, alle ihre Studien inklusive der Ergebnisse dort öffentlich zu machen. Wie wichtig das ist, hat gerade eine Untersuchung über die übliche Veröffentlichungspraxis ergeben.6 Von 677 Studien, die in dem erwähnten Register bis Ende 2005 als abgeschlossen registriert wurden, waren bis Ende 2007 nur 311 publiziert. Das heißt, die Fachwelt erfuhr nur von 46 Prozent der Studien. Darunter leidet natürlich die Entscheidung für die eine oder andere Therapieoption. Ärzten und auch Patienten wird damit die Möglichkeit genommen, sich informiert für oder gegen eine Behandlung zu entscheiden.

Sie meinen, die selektive Veröffentlichungspraxis verzerrt das Bild von einem Arzneimittel?

Wir nennen das einen Publikationsbias. Eine Schieflage, die dadurch zustande kommt, dass mehr positive Nachrichten bekannt werden als negative.

Dafür ein konkretes Beispiel bitte.

Zur Bewertung von Antidepressiva lagen der US-Arzneimittelbehörde FDA 74 Studien vor. Davon war ein Drittel nicht publiziert. In diesem Drittel gab es nur eine Studie, die für das untersuchte Präparat positiv ausfiel. Bis auf diese eine waren alle anderen 37 positiven Studien publiziert. Anderseits: Bei 36 Studien war der Ausgang nach Ansicht der FDA negativ oder nicht eindeutig. Von diesen wurden nur 3 korrekt veröffentlicht, 22 gar nicht! Die restlichen 11 waren so geschickt formuliert, dass sie für das Medikament sprachen.

Wie groß ist denn der Effekt solcher „Schönheitsoperationen“?

Bei der Untersuchung von Erick Turner7, von der ich hier spreche, fiel der Therapieerfolg um gut 30% besser aus, wenn nicht alle Daten, sondern nur die veröffentlichten berücksichtigt wurden.

Was bedeutet das für Patientinnen und Patienten? Bekommen sie eventuell das falsche Medikament?

Das ist möglich. Ärzte behandeln auf der Basis veröffentlichter Studien. Mit diesen positiven Ergebnissen werben die Hersteller direkt beim Arzt und sie gehen in die Leitlinien ein, an denen sich Ärzte orientieren. Auch neutrale Patienteninformationen beruhen auf den publizierten Studien, die aber eben nur einen Ausschnitt des vorhandenen Wissens darstellen.

Das IQWiG forderte kürzlich mit besonderem Nachdruck, dass alle Ergebnisse aus klinischen Studien öffentlich zugänglich sein müssen.8

Im Auftrag des G-BA (siehe Kasten) hatten wir verschiedene Antidepressiva vergleichend zu bewerten und forderten wie üblich alle verfügbaren Daten bei den Herstellern an. Uns fiel beim Abgleich mit internationalen Internetseiten und Kongressbeiträgen aber auf, dass die Firma Pfizer Studiendaten zu ihrem Wirkstoff Reboxetin zurückgehalten hatte. Erst durch öffentlichen Druck erhielten wir auswertbare Daten von 10 der insgesamt 17 relevanten Studien, die vorher nicht ausreichend klar oder gar nicht publiziert waren. Bei der Durchsicht der Studien stießen wir auf einen klassischen Publikationsbias: Aus den publizierten Studien ging Wirksamkeit hervor. Aber alle Daten zusammengenommen, lindert Reboxetin die Symptome einer akuten Depression nicht besser als ein Placebo, hat aber mehr Nebenwirkungen und schneidet im Vergleich mit Antidepressiva wie den selektiven Serotoninwiederaufnahmehemmern (SSRI) schlechter ab.

Muss ein solches Präparat nicht vom Markt verschwinden?

Zumindest muss man die Frage stellen, ob Krankenkassen es erstatten sollen.

Und was hat der Weltkonzern Pfizer durch dieses Manöver nun erreicht?

Er hat unsere Bewertung nicht nur verzögert, sondern muss es sich zuschreiben, wenn Kranke mit einem nutzlosen Präparat behandelt worden sind. Werden alle Studien öffentlich gemacht, gibt es hier mehr Kontrolle. Darüber hinaus ist es unethisch, wenn Patienten sich für Arzneimitteltests zur Verfügung stellen und anschließend die Resultate bei den Firmen verschwinden. Das widerspricht auch der Deklaration von Helsinki des Weltärztebunds,9 die ethische Standards für klinische Studien, also Versuche mit Menschen, festgelegt hat.

Vielen Dank für das Gespräch.

PDF-Download

– Gute Pillen – Schlechte Pillen 01/2010 / S.12