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© AndreyPopov/iStock

Seltene Krankheiten: Neue Medikamente oft ohne Vorteile

Vereinfachte Bewertung von Orphan Drugs verzerrt Wissen um Nutzen

Die Nutzenbewertung für neue Orphan Drugs stellt den Mehrwert gegenüber älteren Therapien oft falsch dar. Betroffene, Ärztinnen und Ärzte erfahren das aber nur spät oder nie.

Wenn es um neue Medikamente geht, wollen doch alle wissen, wie viel das Mittel tatsächlich nützt, vor allem im Vergleich zu bisherigen Behandlungsmöglichkeiten. Sollte man denken. Für bestimmte Arzneimittel sind die Augen bei der Nutzenbewertung aber per Gesetz verschlossen: Bei Medikamenten gegen seltene Erkrankungen, im Fachjargon „Orphan Drugs“ (wörtlich übersetzt: Waisenmedikamente).1 Wie problematisch das sein kann, zeigt eine aktuelle Analyse des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG).2

Zusatznutzen: Oft nur fiktiv

In Deutschland müssen sich Orphan Drugs im Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) nur einer verkürzten Nutzenbewertung unterziehen, solange der Anbieter weniger als 50 Millionen Euro Jahresumsatz mit dem Medikament macht. Dann gilt ein Zusatznutzen per Gesetz automatisch („fiktiver Zusatznutzen“), der G-BA muss ihn also ohne Rücksicht auf die vorhandene Evidenz anerkennen. Wird diese Grenze überschritten, folgt eine reguläre Bewertung.
Für die Analyse hat das IQWiG die Unterlagen zu allen Orphan Drugs ausgewertet, die seit 2011 zunächst ein vereinfachtes Verfahren und später die reguläre Nutzenbewertung durchlaufen haben: 20 Wirkstoffe mit insgesamt 41 Einzelbewertungen.3 Bei knapp 40 Prozent fiel die reguläre Bewertung genauso positiv oder sogar besser aus als im vereinfachten Verfahren. Allerdings zeigte sich bei mehr als der Hälfte die Annahme eines Zusatznutzens als nicht gerechtfertigt: Hier konnte der Hersteller nicht belegen, dass die neuen Medikamente Patient:innen mehr nützen als die gängigen Behandlungen.

Mit dem erleichterten Verfahren für Orphan Drugs war eigentlich auch die Hoffnung verbunden, dass die Anbieter die Zeit nach der Zulassung für Studien nutzen, die den Stellenwert des neuen Medikaments besser ausloten. Ganz neue Studien gab es laut IQWiG-Analyse aber nur für jede zehnte Detailbewertung. Immerhin für ein weiteres Viertel standen in der regulären Bewertung neue Daten aus fortgesetzten Studien oder neue Auswertungen bisheriger Studien zur Verfügung.

Möglich: Gute Studien

Ob bei Orphan Drugs überhaupt die gleichen Maßstäbe wie bei anderen Arzneimitteln gelten können, wird mitunter bestritten – so gibt es zum Beispiel deutlich weniger Patient:innen, die überhaupt an Studien teilnehmen können. Die IQWiG-Analyse zeigt jedoch, dass der Status als Orphan Drug kein Hinderungsgrund sein muss, formal hochwertige Studien durchzuführen: So gab es bereits für die erleichterte Bewertung bei rund zwei Drittel aller Detailbewertungen Daten aus randomisierten kontrollierten Studien (RCTs), die als besonders zuverlässig gelten.

Allerdings beeinflusst auch die konkrete Gestaltung der Studie die Aussagekraft für die Nutzenbewertung: Erhalten die Teilnehmenden in der Kontrollgruppe tatsächlich die bisher bestmögliche Standardtherapie? Und wird wirklich das gemessen, was für Patient:innen tatsächlich relevant ist? Weil diese Bedingungen nicht immer erfüllt waren, konnten sich in der regulären Bewertung nur etwa 40 Prozent der Detailbewertungen auf Daten aus RCTs stützen.

Vielfältige Probleme

Die Situation ist kein theoretisches Problem, sondern hat handfeste Konsequenzen: Sie kann dazu führen, dass Ärztinnen und Ärzte neue Orphan Drugs bevorzugt einsetzen, obwohl sie nicht besser sind als bewährte Behandlungsmöglichkeiten und diese umgekehrt ungerechtfertigt abwerten ‑ zum Nachteil von Patient:innen.

Bis diese Fehleinschätzung in der regulären Nutzenbewertung korrigiert wird, kann einige Zeit vergehen: Bei den 22 Detailbewertungen der IQWiG-Analyse, bei denen final kein Zusatznutzen festgestellt werden konnte, verging bis zur Neubewertung mindestens ein Jahr, manchmal verstrichen aber bis zu neun Jahre. Es kann aber auch noch länger dauern, zum Beispiel wenn neue Orphan Drugs die Umsatzgrenze nicht erreichen. Für eine ganze Reihe gibt es noch keine regulären Bewertungen.

Wenig Zusatznutzen, hoher Preis

Das Ergebnis der Nutzenbewertung beeinflusst auch den Preis, den die solidarisch finanzierte gesetzliche Krankenversicherung für Orphan Drugs aufbringen muss. Damit betrifft das Problem letztlich nicht nur Menschen mit seltenen Erkrankungen, sondern alle. Auswertungen von gesetzlichen Krankenkassen zufolge gehören bei den Krebsmedikamenten Orphan Drugs zu den Wirkstoffen mit den höchsten Umsätzen.4 In den letzten Jahren sind die Therapiekosten mit Orphan Drugs deutlich stärker gestiegen als mit anderen Arzneimitteln.5

Was sich ändern muss

Bereits seit vielen Jahren fordern verschiedene Institutionen, neben dem IQWiG etwa auch die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, dass sich auch Orphan Drugs von Anfang an einer regulären Nutzenbewertung unterziehen müssen. Das IQWiG weist aber auch noch auf weiteren Reformbedarf hin: Seit einigen Jahren kann der G-BA den Hersteller verpflichten, für die Nutzenbewertung weitere Daten zu Nutzen und Risiken zu sammeln („anwendungsbegleitende Datenerhebung“). Allerdings sind die Möglichkeiten dazu derzeit gesetzlich sehr begrenzt, randomisierte kontrollierte Studien, die die beste Evidenz bieten, sind nicht möglich. Das sollte sich ändern, so das IQWiG, um Datenlücken zu schließen und so verlässlicheres Wissen zu Orphan Drugs zu bekommen.

 

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– Gute Pillen – Schlechte Pillen 03/2022 / S.07