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©timstarkey/ istockphoto.com

Kein Kraut gewachsen

Warum neue Antibiotika fehlen

Durch Antibiotika haben viele Infektionen, die früher lebensbedrohlich waren, ihren Schrecken verloren. Aber die gängigen Antibiotika sind gegen immer mehr Bakterien nicht mehr wirksam. Das ist ein weltweites Problem. Und weil die Antibiotikaforschung für Pharmafirmen nicht lukrativ genug ist, wird händeringend nach anderen Lösungen gesucht.

Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat kürzlich aufgelistet, gegen welche Krankheitserreger weltweit neue Antibiotika gebraucht werden, weil die zur Verfügung stehenden mittlerweile wirkungslos sind. An erster Stelle steht Acinetobacter baumannii, ein Keim, der Wundinfektionen und Lungenentzündungen auslösen kann.1 Aber auch Salmonellen sind in ärmeren Ländern ganz oben mit dabei. Sie sind typische Auslöser von Lebensmittelvergiftungen. Und Brechdurchfall wird in Deutschland häufig von Campylobacter verursacht.

Wie konnte es dazu kommen, dass für die Therapie bakterieller Infektionen wirksame Antibiotika fehlen? Die Antwort ist einerseits die Bildung von Resistenzen und anderseits die mangelnde Forschungstätigkeit der Industrie.

Natur contra Natur

Viele Organismen, etwa Pflanzen oder Pilze, bilden antibiotische Wirkstoffe, um sich selbst gegen Bakterien zu schützen. Diese natürlichen Antibiotika können Bakterien abtöten oder zumindest ihre Vermehrung verhindern. Deshalb ist es auch kein Wunder, dass das erste bekannte Antibiotikum aus einem Schimmelpilz isoliert wurde: Penicillin.

Manche Bakterien sind gegen vorhandene Antibiotika „von Hause aus“ gefeit, sie vermehren sich auch in Anwesenheit des Antibiotikums. In Bodenproben, die 30.000 Jahre lang in Alaska tiefgefroren waren, fanden Forscher Bakterien, die gegen Penicillin, Tetracyclin und weitere Antibiotika resistent sind – also schon lange, bevor die heute gängigen Medikamente auf den Markt kamen.

Andere Bakterien wiederum können sich selbst gegen zunächst wirksame Antibiotika schützen, weil sie genetisch variabel sind und sich somit ständig neue Varianten bilden. Auf diese Weise entstehen resistente Bakterienstämme.

Therapeutisches Dilemma

Seit den 1930er Jahren können Ärzte Antibiotika gezielt einsetzen. Galten sie zunächst noch als kostbares Mittel für Ausnahmesituationen, werden sie heute oft zu unkritisch verwendet, also wenn es gar nicht nötig oder nicht sinnvoll ist. Und inzwischen haben wir das Problem, dass dort, wo häufig Antibiotika eingesetzt werden, das Risiko steigt, resistente Bakterien heranzuzüchten. Hier sind die Brennpunkte:

Brennpunkt: Arztpraxis

Hausärzte verschreiben die meisten Antibiotika. Doch jede dritte Verschreibung ist medizinisch nicht angemessen.2 Zum Beispiel werden vielfach Rezepte bei Erkältungen ausgestellt, also bei Infektionen, die meist durch Viren verursacht werden – hier sind Antibiotika wirkungslos. Angebracht wären ein aufklärendes Gespräch mit dem Patienten und eventuell eine Krankschreibung. Denn oft sind es die Patienten selbst, die ein solches Rezept erwarten, um „arbeitsfähig“ zu bleiben.

Ein anderes Problem ist die Verordnung von Breitbandantibiotika nach dem Prinzip Schrotflinte: Ist beispielsweise bei einem Harnwegsinfekt klar, um welchen Keim es sich handelt, sollte gezielt das passende Antibiotikum verordnet werden – keinesfalls Antibiotika, die bei lebensbedrohlichen Infektionen wirksam sind und dann dringend gebraucht werden.

Dieses Verordnungsverhalten von Ärzten und Ärztinnen in Deutschland könnte durch intensive unabhängige Fortbildung deutlich verbessert werden. Die Kassenärztlichen Vereinigungen verfügen über die notwendigen Verschreibungsdaten.

Nützlich ist das so genannte Bedarfsrezept für ein Antibiotikum. Patienten lösen es bei einer bestehenden bakteriellen Erkrankung nur dann ein, wenn sich die Beschwerden verschlimmern. Dieses Rezept gibt ihnen Sicherheit – und es senkt nachweislich den Antibiotikaverbrauch.3

Problematisch ist, dass Ärzte – auch unter dem Einfluss von Werbung – nicht immer das Antibiotikum der 1. Wahl verordnen (siehe dieses Heft: Werbung-Aufgepasst!, S. 28).

Brennpunkt: Krankenhaus

Da in Kliniken sehr häufig Antibiotika verwendet werden, bilden sich Resistenzen hier besonders schnell und erschweren auf lange Sicht die Behandlung. Wenn ein Antibiotikum nicht anschlägt, wird notgedrungen ein anderes versucht. Das verlängert die Behandlung, und Heilung ist manchmal nicht möglich, wenn die Bakterien gegen mehrere Antibiotika unempfindlich sind.

Krankenhauspatienten sind besonders anfällig für Infektionen, denn ihr Immunsystem ist meist schon durch Krankheit oder Operation geschwächt. Außerdem sind Katheter und Wunden Eintrittspforten für Bakterien. Die Folge sind Lungenentzündungen, Blutvergiftungen oder schwer heilende Wunden. In Deutschland infizieren sich jährlich schätzungsweise 600.000 Menschen im Krankenhaus, bis zu 15.000 sterben daran.4

Brennpunkt: Hygiene

Neun von zehn Infektionen mit Krankenhauskeimen erfolgen über die Hände des Klinikpersonals.5 Eine korrekte Desinfektion der Hände braucht Unterweisung, Zeit und Kontrolle, und die fehlen im Krankenhausalltag häufig. Mit mehr Ärzten und Pflegekräften, Fortbildung und besseren Kontrollen ließen sich die Hygienebedingungen deutlich verbessern. Das ist aber in einem zunehmend profitorientierten Gesundheitssystem kaum zu erreichen.
Ein weiteres Problem: Antibiotika werden häufig nicht korrekt verwendet – falsch ausgewählt oder falsch dosiert. Das liegt auch an einem Mangel der ärztlichen Aus- und Fortbildung, wird sich aber hoffentlich bessern. Unter dem Schlagwort „Antibiotic Stewardship“ [engl. stewardship = Verantwortung] werden an immer mehr Krankenhäusern sachkundige Teams geschaffen, die für Patienten eine optimale Antibiotikatherapie planen. Entsprechende Fortbildungsangebote für diese Zusatzqualifikationen sind aber noch Mangelware.

Brennpunkt: Agrarindustrie

In der hochtechnisierten Landwirtschaft ist der Antibiotika-Verbrauch enorm: 2014 wurden dort 1.238 Tonnen verfüttert. Der Verbrauch bei Menschen wird auf 800 Tonnen geschätzt.6 Jeder tiermedizinische Einsatz fördert Resistenzen, die sich außerhalb der tierhaltenden Betriebe verbreiten können: Wer in einer Mastanlage resistente Erreger einatmet, bringt sie bei seinem nächsten Krankenhausaufenthalt mit. Auch durch Stallabluft, Gülletransporte und Tiertransporte quer durch Europa verlassen resistente Bakterien die Betriebe und breiten sich aus.

Besonders ärgerlich: Häufig erhalten auch gesunde Tiere Antibiotika, beispielsweise wenn in einem Geflügelbetrieb mit zehntausend Tieren nur einige wenige erkrankt sind. Meist wird dann der gesamte Bestand behandelt (Metaphylaxe), und zwar mit mehreren Antibiotika gleichzeitig.7

Damit sich in der Tierhaltung etwas verbessert, müssen nicht nur die Verbrauchsmengen der Medikamente viel genauer als bisher erfasst werden. Entscheidend sind auch die Haltungsbedingungen: Je gesünder ein Tier lebt, desto seltener wird es krank und desto seltener braucht es Antibiotika.

Die deutsche Agrarpolitik ist aber nicht auf bestmögliche Tiergesundheit ausgerichtet, sondern auf profitable Massenproduktion. Viel wäre gewonnen, wenn in der Tierzucht die Robustheit wieder stärker in den Fokus käme und Haltungsbedingungen strikter gesetzlich geregelt und kontrolliert würden. Das scheitert jedoch vor allem an der starken Agrarlobby.

Globale Programme

Um gegen bakterielle Resistenzen gewappnet zu sein, brauchen wir dringend neue Arzneimittel. Doch die Pharmaindustrie hat sich mangels Gewinnaussichten fast komplett aus der Antibiotikaforschung zurückgezogen. Nun soll diese Lücke multinational geschlossen werden. Zum Beispiel hat die WHO ein Projekt ins Leben gerufen, das neue Antibiotika entwickeln soll und von vielen Staaten finanziert wird (GARD-P).8

Eins sollte sich jeder vor Augen führen: Bakterien machen vor Landesgrenzen genauso wenig Halt wie Resistenzen. Der Slogan „One Health“ – eine Gesundheit – verdeutlicht dies.9 Bakterien wechseln zwischen Mensch und Tier und verbreiten sich in Windeseile. Doch viele Länder erfassen bisher nicht einmal, welche Bakterien bei ihnen gegen Antibiotika resistent und damit besonders gefährlich sind. Noch schlimmer: In vielen Staaten sind Antibiotika generell ohne Rezept zu haben. Das erleichtert die unheilvolle inflationäre Verwendung.

Den Umgang mit resistenten Bakterien weltweit abzustimmen, ist deshalb sinnvoll. Bleibt zu hoffen, dass unabhängig davon hierzulande der Verbrauch gezielt gedrosselt wird. Dazu können Sie selbst beitragen.

Blasenentzündung
GPSP 2/2015, S. 12

Zu viel des Guten
GPSP 1/2016, S. 23

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– Gute Pillen – Schlechte Pillen 03/2017 / S.08