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©Jörg Schaaber

Lithium: Wenn das Auf und Ab der Stimmung unerträglich ist

Unter den Psychopharmaka sind Lithiumsalze faszinierende Wirkstoffe. Verbindungen dieses Leichtmetalls können manisch-depressive Menschen – heute meist als „bipolar“ bezeichnet – vor leidvollen Krankheitsphasen schützen und Selbsttötungen deutlich vermindern. Obwohl von unabhängigen Institutionen als Mittel der ersten Wahl zur Vorbeugung empfohlen, wird es weltweit immer weniger verordnet, weil neuere teure Präparate massiv beworben werden.

Die Entdeckung der psychischen Wirkungen von Lithium1 ging seltsame Wege. Früher glaubten einige Wissenschaftler, dass Harnsäure und Harnstoff für die Entstehung psychotischer, also wahnhafter und krankhaft erregter Zustände, eine Rolle spielen. 1946 wollte der australische Psychiater John Cade deshalb an Meerschweinchen die Bedeutung von Harnsäure testen. Sein Problem: Für die Injektion benötigte er eine wasserlösliche Harnsäureverbindung. Das Lithiumsalz der Harnsäure erwies sich als gut geeignet. Dabei fiel dem Wissenschaftler auf, dass seine Versuchstiere in einen eigentümlich lethargischen Zustand gerieten – bei ungetrübtem Bewusstsein.

Er kam deshalb auf die Idee, mehrere psychotische Patienten direkt mit Lithium zu behandeln. Und er hatte damit Erfolg. 1949 veröffentlichte Cade seine Entdeckung über die erstaunliche und heilsame Wirkung.

Der dänische Psychiater Mogens Schou führte die Lithiumforschung mit manischen Patienten systematisch fort. Seine positiven Ergebnisse fanden jedoch in der Fachwelt keine Aufmerksamkeit. Sie fielen nämlich in eine Zeit, in der in den USA eine Reihe von zum Teil tödlichen Lithiumvergiftungen für Unruhe gesorgt hatte. Dazu kam es, weil Lithiumsalze als Ersatz für Kochsalz bei Menschen mit Bluthochdruck empfohlen worden waren. Dass die Lithiumkonzentration im Blut strikt überwacht werden muss, wusste man damals noch nicht. Zu viel ist giftig.

Neue Studien brachten schließlich den Durchbruch: Längerfristig eingenommen kann Lithium manische oder depressive Phasen verhindern. Es galt daher in den 1960er Jahren weltweit als Standard bei der Behandlung manisch-depressiver (bipolarer) oder auch depressiver (unipolarer) Menschen.

Ins Abseits gedrängt

In den 1970er Jahren verdrängten vor allem in den USA andere Medikamente die Therapie mit Lithium. Eine zunehmend größere Rolle spielten Mittel gegen Anfallskrankheiten (Antiepileptika) wie Carbamazepin, Valproat oder Lamotrigin – obwohl deren Wirksamkeit nicht besser, ja teilweise sogar schlechter war. Für das Desinteresse an Lithiumpräparaten gibt es mehrere Gründe:

  1. In der akuten manischen Phase wirkt z.B. Valproat etwas schneller als Lithium, und der Patient kann schneller eine größere Dosis verkraften.
  2. Bei Antiepileptika muss die Konzentration im Blut nicht so akribisch und oft kontrolliert werden.
  3. Die Hersteller verdienten an diesen teilweise noch unter Patentschutz stehenden Mitteln sehr viel mehr und machten entsprechend kräftig Werbung.
  4. Auch die Beurteilung von psychischen Erkrankungen – also das psychiatrische Diagnosesystem – hat sich geändert. Gerade in den USA werden viele Patienten als bipolar eingestuft, die von europäischen Ärzten unter Umständen eine andere Diagnose erhalten würden, zum Beispiel Schizophrenie. Lithium wirkt bei den Symptomen schizophrener Patienten nicht, sodass sich die Meinung in den USA verbreitete, Lithium sei wirkungslos geworden.2 Die ungute Folge: Viele Patienten erhielten immer fantasiereichere, aber wissenschaftlich nie überprüfte Medikamentencocktails.

Rehabilitiert

Inzwischen kam es, insbesondere durch den Einfluss europäischer Psychiater und zuverlässiger Studien, zu einer Kehrtwende: Lithium ist rehabilitiert. In der neuen deutschen Leitlinie zur Behandlung der bipolaren Erkrankung ist Lithium, was die Vorbeugung angeht, die am nachdrücklichsten empfohlene Substanz (Kategorie A).3 Denn Lithium kann die Zahl der Selbsttötungen deutlich mindern.4 Das schafft kein anderes Psychopharmakon. Lithiumpräparate können manischen und depressiven Phasen langfristig vorbeugen, und seltener muss eine akut aufgetretene Manie behandelt werden.5

Wenn Antidepressiva nicht ausreichend gegen eine Depression wirken, kann Lithium deren Wirkung verstärken (so genannte Augmentation).6 Es kann auch krankhafte Aggressivität mildern.

Korrekte Anwendung wichtig5

Lithiumsalze werden als Tablette unter zunächst wöchentlichen, dann monatlichen, später dreimonatigen Kontrollen des Lithiumspiegels im Blut eingenommen. Diese Kontrolle ist sehr wichtig, um die wirksame Dosis einzuhalten und eine schädliche Überdosierung zu vermeiden. Wenn alles gut klappt, kann die Behandlung oft lebenslang so beibehalten werden.

Die häufigsten unerwünschten Wirkungen von Lithium sind: Zittern der Finger, Durchfall, erhöhte Harnmenge, Gewichtszunahme, leichte Gedächtnisstörungen, Veränderung der Schilddrüsenfunktion. Das lässt sich meist in den Griff bekommen, wenn der behandelnde Arzt die Dosis neu anpasst oder ergänzende Medikamente verordnet.

Wer stärkeres Händezittern, Unsicherheit beim Gehen, besonders starken Durst verspürt oder Sprachstörungen bekommt, sollte sofort seinen Arzt oder seine Ärztin kontaktieren. Es können erste Zeichen einer schleichenden Vergiftung sein. Wenn sie nicht behandelt wird, kann sie die Nieren und das Kleinhirn schädigen.

Manche Arzneimittel können den Lithiumspiegel im Blut erhöhen, wenn sie zusätzlich eingenommen werden. Im Laufe von einigen Wochen kann sich dann unter Umständen eine Vergiftung einstellen. Wer Lithiumpräparate benötigt, sollte daher stets seinen Lithiumpass dabei haben und – falls er ein weiteres Medikament bekommt – seinen Arzt oder Apotheker informieren.

Unbedingt beachten

Kürzlich wurde bekannt, dass es bei Einzelnen nach einer über 20 bis 30 Jahre dauernden Einnahme von Lithium zu Nierenschäden gekommen ist. Vermutlich liegt das an einem nach heutigen Maßstäben zu hoch eingestellten Lithiumspiegel – so wie er früher üblich war.7

Lithium wirkt offenbar nicht bei jedem oder jeder. Und es kann individuell sehr unterschiedlich lange dauern, bis ein Therapieerfolg sicher ist. Dann brauchen Sie als Betroffene und Angehörige Geduld. Lassen Sie sich – wenn irgend möglich – nicht vorschnell zur Einnahme immer neuer Tablettenkombinationen verleiten.

Stellt sich aber der Erfolg nach einem Zeitraum von zum Beispiel drei Jahren nicht ein, sollte die Lithium-Behandlung abgebrochen werden. In jedem Fall ist eine sorgfältige Dokumentation aller Krankheitsphasen im so genannten Phasenkalender sehr wichtig.

Psychische Erkrankungen – die Macht der Definition
GPSP 4/2013, S. 6 

Depression
GPSP 1/2008, S. 12

Suizidneigung
GPSP 2/2013, S. 10

PDF-Download

– Gute Pillen – Schlechte Pillen 06/2014 / S.10