Giftküche oder Segensbringer?
Natürlich, sanft, harmonisch – das klingt gut. Diese Begriffe fallen häufig im Zusammenhang mit einer „natürlichen Medizin“, die sich durch besonders schonende Wirkungen auszeichnen soll. Gerne wird damit ein Gegensatz zu einer „chemischen Medizin“ konstruiert, die angeblich aggressiv ist. Doch dieser Gegensatz ist künstlich und fern der Wirklichkeit.
Von einigen einheimischen Pflanzen verspricht man sich bei Alltagsbeschwerden Linderung: Kamille beruhigt den Magen, Lindenblütentee kann bei einer Erkältung das Schwitzen anregen. Keine dieser Pflanzen ist mit besonderen Risiken behaftet. Soweit, so gut. Aber lässt sich daraus grundsätzlich ableiten, die Natur sei sanft?
Kreative Giftküche
Die Natur ist vor allem eines: kreativ. Sie hat unzählige Stoffe hervorgebracht, die keineswegs sanft wirken. Viele haben den Zweck, die Pflanze oder das Tier zu schützen, die diese Wirkstoffe produziert haben. Beispielsweise bildet der Fliegenpilz Giftstoffe, um Fressfeinde abzuwehren. Schlangen und andere Tiere erzeugen Gifte, um sich zu verteidigen oder um Beute zu machen. Extrem starke Gifte in der Medizin stammen oft nicht aus dem Labor, sondern aus der Natur selbst – etwa von Bakterien. Beispiele sind Tetanustoxin, das lebensgefährlichen Wundstarrkrampf verursacht, oder Botulinumtoxin, das den ebenfalls oft lebensgefährlichen Botulismus („Fleischvergiftung“) auslöst.
Viele Substanzen aus dem „Natur-Labor“ kommen als Arzneimittel in Frage. Manche nutzt man schon lange. So wurde früher Weidenrinde mit Wasser ausgekocht und der Sud zum Fiebersenken verwendet. Wirksamer Bestandteil ist die Salicylsäure (lateinisch Salix = Weide).
Weiterentwicklung im Labor
Die Weidenrinde steht für ein wichtiges Kapitel in der Arzneimittelgeschichte. Im 19. Jahrhundert begannen Forscher, Naturstoffe im Labor zu isolieren und chemisch zu verändern, um daraus Medikamente mit verbesserten Eigenschaften zu entwickeln. Salicylsäure aus der Weidenrinde, die den Magen stark reizt, wurde in die besser verträgliche Acetylsalicylsäure (Aspirin® u.a.) umgewandelt. Viele „moderne“ Medikamente entstanden durch Weiterentwicklung pflanzlicher Wirkstoffe.
Bei vielen Stoffen ist die nützliche Dosis nur wenig von der schädlichen Dosis entfernt. Ein Beispiel: Bei Scopolamin aus Stechapfel, das Bauchkrämpfe lindert, ist die Gefahr einer Vergiftung bei falscher Dosierung sehr groß. Die chemische Abwandlung zum Butylscopolamin (Buscopan®) erhöht die Sicherheit enorm. Der „natürliche“ Wirkstoff aus der Pflanze kann also wesentlich giftiger sein als ein „synthetischer“ Wirkstoff aus der Fabrik!
Manche Medikamente stammen direkt aus der Natur. Das erste Antibiotikum Penicillin wurde aus einem Pilz isoliert. Das wichtige Krebsmedikament Paclitaxel (Taxol® u.a.) aus der Rinde der Eibe. Zur Produktion des starken Schmerzmittels Morphin benutzt man immer noch den Schlafmohn.
Rund ein Drittel der Wirkstoffe, die in den letzten Jahrzehnten neu entwickelt wurden, sind direkt auf Naturstoffe zurückzuführen (siehe Tabelle).1,2
Die Unterscheidung in „natürlich“ und „synthetisch“ stammt aus einer Epoche, in der man glaubte, „natürliche“ oder „organische“ Substanzen könnten nicht von Menschenhand geschaffen werden, da sie eine „Lebenskraft“ enthielten. Diese Theorie hat vor fast 200 Jahren der Chemiker Friedrich Wöhler widerlegt. Nahezu jeder natürlich vorkommende Stoff lässt sich heute im Labor herstellen.
Natur – kein Qualitätssiegel
Immer wieder ist auch zu lesen, Naturstoffe hätten ein optimal aufeinander abgestimmtes Gemisch verschiedener Wirkstoffe, was sie besonders verträglich mache. Stimmt das? Pflanzen enthalten viele Inhaltsstoffe. Allerdings hat sich diese Mischung nicht als Ausgangsstoff für Arzneimittel entwickelt, sondern sie nützt der Pflanze selbst. Und die Zusammensetzung ändert sich: Es macht einen Unterschied, ob eine Pflanze gerade unter Trockenheit oder Insektenbefall leidet, ob sie zu wenig Licht bekommt oder ob sie sich auf die Blüte vorbereitet. Die Inhaltsstoffe werden so gebildet, wie die Pflanze es gerade vermag oder nötig hat, aber nicht, wie der Mensch es braucht. Um zu erfassen, welche Auswirkungen all das auf den medizinischen Nutzen für Menschen hat, sind systematische wissenschaftliche Untersuchungen und vergleichende Studien mit Placebo nötig.
Es ist einem Wirkstoff gar nicht anzusehen, ob er aus der Natur stammt oder künstlich im Labor geschaffen wurde. Zudem werden aus der Natur gewonnene Medikamente heute technisch weiterverarbeitet, z.B. damit alle Tabletten eines Präparates die gleiche Menge Wirkstoff enthalten. Das dient der Vorhersehbarkeit der Wirkung und der Sicherheit der Anwender.
Naturstoffe sind nicht per se sanft. Entscheidend ist, ob eine erwünschte Wirkung erwiesen ist. Die Abwägung zwischen Nutzen und Schaden muss für jeden Wirkstoff und jedes Medikament getroffen werden, ganz egal, woher es ursprünglich stammt.
Stand: 23. Oktober 2015 – Gute Pillen – Schlechte Pillen 06/2015 / S.22