Falschinformationen zu Nikotin und Corona
Umstrittene Studien mit Verbindung zur Tabakindustrie
Im Jahr 2020 machten Studien Schlagzeilen, denen zufolge Nikotin-Konsum angeblich vor Covid-19 schützt. Das hat sich jedoch nicht bestätigt, ganz im Gegenteil. Außer voreiligen wissenschaftlichen Schlussfolgerungen hat vermutlich noch ein anderer Faktor eine Rolle gespielt: Verbindungen der Forscher zur Tabakindustrie.
Die Nachricht verbreitete sich im vergangenen Jahr wie ein Lauffeuer: „Französische Forscher wollen Nikotin-Pflaster an Coronavirus-Patienten testen“, titelte etwa der britische Guardian1. Denn eine Studie habe gezeigt, dass Raucher ein geringeres Covid-Risiko hätten. Die Untersuchung lege sehr nahe, „dass regelmäßige Raucher mit viel kleinerer Wahrscheinlichkeit eine symptomatische oder schwere Infektion entwickeln“, zitiert die Zeitung die Forscher. Der Effekt sei signifikant und so stark, wie er selten in der Medizin zu beobachten sei.
Schützt Rauchen wirklich?
Dabei war diese Studie zum damaligen Zeitpunkt noch nicht von anderen Wissenschaftler:innen begutachtet worden – und sie ist ohnehin mit vielen Einschränkungen verbunden.2 Das Forschungsteam beschrieb, dass nur rund fünf Prozent der an Covid-19 Erkrankten, die in einem Pariser Krankenhaus behandelt wurden, rauchten – viel weniger als in der Gesamtbevölkerung. Allerdings ignorierten sie Patient:innen, die auf der Intensivstation behandelt werden. Offen ist außerdem, ob die Auswahl der betrachteten Patient:innen repräsentativ ist – oder ob die Ergebnisse verzerrt sind und sich nicht verallgemeinern lassen. Eine zweite, ebenfalls unbegutachtete Studie aus der gleichen Arbeitsgruppe stellte eine Hypothese auf, auf welche Weise Nikotin möglicherweise vor dem Coronavirus schützen könnte. In dem Pariser Krankenhaus starteten Studien mit Nikotinpräparaten: Sie sollten die „Nikotin-Hypothese“ weiter untermauern.
Ein Run auf Nikotin
Eine Folge der medialen Berichterstattung: Viele Menschen in Frankreich versuchten, sich zum Schutz vor Covid-19 mit Nikotinprodukten wie Pflastern oder Kaugummis einzudecken, wie sie zur Raucherentwöhnung verkauft werden. Denn das Forschungsteam hatte zwar auch die Gefahren des Rauchens erwähnt – gleichzeitig aber Nikotinprodukte als möglicherweise „effektive Behandlung für eine akute Infektion etwa mit Covid-19“ bezeichnet. Schließlich mussten die französischen Behörden sogar den Verkauf von Nikotinprodukten einschränken, um die Versorgung zur Raucherentwöhnung weiterhin gewährleisten zu können.
Risiko für schweren Verlauf
Die WHO hatte nach der Veröffentlichung der französischen Studien befürchtet, dass sie den Kampf gegen das Rauchen beschädigen könnten: Denn der Tabakkonsum verursache ohnehin jährlich acht Millionen Todesfälle. Außerdem hätten andere Studien diese Ergebnisse nicht bestätigt: Diese legen nahe, „dass Rauchen bei hospitalisierten Patienten mit Covid-19 mit schwererem Krankheitsverlauf und erhöhter Mortalität verbunden ist“.
Finanzielle Interessen
Inzwischen wurde bekannt, dass bei den Studien Interessenkonflikte des Forschungsteams eine Rolle gespielt haben können: Laut einer Recherche des medizinischen Fachmagazins „British Medical Journal“ (BMJ) gibt es versteckte finanzielle Verbindungen zwischen einem der Autoren und Tabakfirmen. So habe der französische Neurowissenschaftler und Nikotin-Spezialist Jean-Pierre Changeux in den 1990er-Jahren Gelder eines Tabak-Interessenverbands erhalten, rund 180.000 Euro.
Ein ähnliches Muster zeigte sich in einer Arbeit des griechischen Kardiologen Konstantinos Farsalinos im Frühjahr 2020: Er hatte ebenfalls die „Nikotin-Hypothese“ genährt – und trotz fehlender Daten die vermeintlichen schützenden Effekte auch für E-Zigaretten behauptet. Die Ergebnisse habe er anschließend in mehreren Veranstaltungen vorgestellt, bei der die Tabaklobby eine Rolle spielte – so etwa bei einer Konferenz, wo ebenfalls der Forschungsdirektor von British American Tobacco sprach.
Fragwürdige „harm reduction“
Farsalinos ist laut BMJ in den vergangenen Jahren auch gegenüber der Politik als Befürworter des „harm reduction“-Ansatzes aufgetreten. Die Idee dahinter: Wer sich den Nikotinkonsum nicht abgewöhnen kann, sollte zumindest zu Erzeugnissen wechseln, bei denen keine Verbrennungsprodukte entstehen – wie etwa zu E-Zigaretten.
Davor warnt jedoch die Weltgesundheitsorganisation WHO: So gebe es noch nicht ausreichend Daten, um ihre langfristigen Auswirkungen auf die Gesundheit beurteilen zu können (siehe S. 8). Für Tabakfirmen ist das Konzept jedoch eine Marketing-Strategie, um neue Produkte verkaufen zu können. Im Jahr 2020 hat Philip Morris International bereits knapp ein Viertel seines Umsatzes damit gemacht – fast 7Milliarden US-Dollar.3
Noch mehr Verbindungen
Farsalinos veröffentlichte seine Hypothese später in einem Herausgeberkommentar einer Fachzeitschrift. Einer seiner Koautoren ist laut BMJ-Recherche im Jahr 2013 Mitglied des Forschungsbeirats von Philip Morris International gewesen und hat Beraterhonorare erhalten. Das Labor eines weiteren Koautors hat Gelder vom größten E-Zigaretten-Hersteller Griechenlands erhalten. Dieser Interessenkonflikt wurde nicht offengelegt.
Forschungsgelder haben die beiden auch von zahlreichen weiteren Organisationen in Verbindung mit der Tabak- und E-Zigaretten-Industrie erhalten, darunter von der formal gemeinnützigen „Stiftung für eine rauchfreie Welt“, die ihre Stiftungsgelder jedoch ausschließlich von einem der weltweit größten Tabakkonzerne, Philip Morris International, erhält. 2020 hatte die Stiftung 900.000 US-Dollar als Forschungsunterstützung ausgeschrieben: Für Projekte, die den Zusammenhang zwischen Rauchen, Nikotinkonsum und Covid-19 untersuchen.
Studie zurückgezogen
Im Sommer 2020 veröffentlichten Farsalinos und Kollegen im Fachmagazin „European Respiratory Journal” eine weitere Analyse, die den vermeintlich schützenden Effekt von Rauchen vor Covid-19 belegen sollte. Im März 2021 zog die Zeitschrift den Artikel jedoch zurück. Der Grund: Zwei der Koautoren hatten ihre finanziellen Verbindungen mit der Tabakindustrie bei der Einreichung des Artikels nicht wie nötig offengelegt. Dazu gehört auch die „Stiftung für eine rauchfreie Welt“. Die WHO bezeichnete diese Stiftung übrigens als „klaren Versuch, das Rahmenübereinkommen zur Eindämmung des Tabakgebrauchs durch Beeinflussung der Politik zu brechen“.
Stand: 1. November 2021 – Gute Pillen – Schlechte Pillen 06/2021 / S.23