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Die Pharma-Lüge

Wie Arzneimittelkonzerne Ärzte irreführen und Patienten schädigen

Ben Goldacre: Die Pharma-Lüge. Wie Arzneimittelkonzerne Ärzte irreführen und Patienten schädigen. (2013) Köln: Kiepenheuer und Witsch, 448 Seiten, 19,99 €.

Die Spannung dieses Buches ergibt sich aus der pointierten und furchtlosen Beschreibung eines weltweiten, seit Jahrzehnten eingespielten Systems, in das neben der pharmazeutischen Industrie viele einzelne Mediziner, ganze Universitäten, unzählige Auftragsforschungs- und Marketingagenturen, aber auch wissenschaftliche Verlage und staatliche Arzneimittelbehörden eingebunden sind. Es dürfte Lesern und Leserinnen geradezu unheimlich werden, wenn sie von den Hintergründen ihrer letzten Medikamentenverschreibung erfahren – vor allem angesichts der Wissensdefizite zu Wirkungen und Nebenwirkungen, die auch bei den verordnenden Ärzten bestehen. Ben Goldacre, ein britischer Arzt und Medizinjournalist, listet schonungslos und bis ins kleinste Detail auf, wie das Wissen um Vor- und Nachteile von Medikamenten manipuliert wird – zum Schaden nicht nur des einzelnen Patienten sondern des gesamten Gesundheitssystems. Das Buch richtet sich an interessierte medizinische Laien, es kommt ohne Fachjargon aus und ist durchgehend allgemeinverständlich. Es ist zwar umfangreich, kann aber gut in einzelnen Teilen gelesen werden.

Goldacres wichtigste, gut belegte Thesen: Für die Industrie unvorteilhafte Informationen über Medikamente werden systematisch und auf vielfältige Weise unterdrückt. Eine klinische Studie kann bereits so geplant werden, dass ungünstige Effekte möglichst wenig zu Tage treten oder zumindest hinter den günstigen Effekten deutlich zurückstehen. Klinische Studien mit negativem Ergebnis werden sehr häufig gar nicht veröffentlicht (GPSP 1/2010, S. 12). Der Autor bringt beunruhigende und wissenschaftlich gut begründete Anhaltspunkte dafür, wie viele Studiendaten weltweit tatsächlich zurückgehalten werden – die genaue Zahl ist natürlich nicht zu ermitteln.

Der Ausweg wäre eine lückenlose Transparenz aller durchgeführten Studien und aller ihrer Ergebnisse (siehe GPSP 4/2013 S. 22). Davon sind wir aber noch meilenweit entfernt. Erstaunlicherweise stehen die Arzneimittelzulassungs- und Überwachungsbehörden, denen in der Regel die Daten zur Verfügung stehen, hier in einem besonders unrühmlichen Licht – wie aktenkundige Arzneimittelskandale der jüngsten Zeit eindrucksvoll verdeutlichen.

Dass verzerrte Informationen über Arzneimittel eine so nachhaltige und konsequenzenreiche Verbreitung in der Ärzteschaft finden, liegt nicht zuletzt an der eingefahrenen Fort- und Weiterbildungsmaschinerie. Ärztliche Fortbildungen werden zu einem großen Teil von der pharmazeutischen Industrie finanziert. Angesehene und einflussreiche Mediziner, die so genannten Meinungsbildner, haben häufig enge finanzielle Verflechtungen mit Arzneimittelkonzernen (GPSP 5/2006 S. 6). Ganze medizinische Fakultäten geben mehr oder weniger offen zu, von der industriellen Forschungsförderung abhängig zu sein und verbieten schon einmal einem Fakultätsmitglied kritische Aussagen zu einem Arzneimittel. Zuletzt belegt der Autor gut, wie die Interessen der Pharmakonzerne die medizinisch-wissenschaftliche Fachliteratur beeinflussen. Und wenn doch die Datenlage nachweislich gegen ein Medikament spricht, gelingt es oft den Kommunikationsabteilungen großer Firmen, Patientenvertreter zu instrumentalisieren und Selbsthilfegruppen zu unterwandern. So bleibt das Mittel dann trotz schlechter Nutzen-Schaden-Bilanz häufig noch jahrelang am Markt. Spätestens nach Auslaufen des Patentschutzes erlischt dann das Interesse der Firma …

Sicher, keines der angepackten Themen dieses Buches ist komplett neu. Überzeugend ist die Beschreibung eines geschmeidigen riesigen Räderwerkes, in dem nahezu alle Institutionen des Gesundheitssystems und des Wissenschaftsbetriebes gut geschmiert ineinandergreifen. Mit einer Unzahl von Beteiligten, die an ihrer jeweiligen Stelle das Richtige zu tun glauben. Hervorzuheben ist aber auch, dass der Autor konstruktive und konkrete Vorschläge macht, was jeder Einzelne dazu beitragen kann, dass sich etwas ändert. Er richtet seinen Appell an Patienten, Ärzte, Forscher und Behörden. Auch derjenige, der schon alles über die menschenverachtenden Machenschaften der pharmazeutischen Industrie zu wissen glaubt, sollte dieses Buch lesen. Es enthält ein nützliches Register und für Ambitionierte zum Weiterlesen 357 Literaturquellen.

Eine so systematische, gut recherchierte und lückenlos begründete Beschreibung dieses gesamten verwerflichen Systems gab es bisher nicht.

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– Gute Pillen – Schlechte Pillen 05/2013 / S.17