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©Jörg Schaaber

Tödliche Gedanken

Was Menschen dazu bringt, sich selbst zu töten. Und wo es Hilfe gibt.

Ganz unterschiedliche Faktoren können dazu führen, dass Menschen ihrem Leben ein Ende setzen wollen. Für Angehörige und Freunde stellt sich die Frage, ob und wie sich ein Suizid bei besonders gefährdeten Menschen verhindern lässt.

Stirbt ein Mensch durch Selbsttötung (Suizid), dann erscheint dies Außenstehenden manchmal in gewissem Maße nachvollziehbar. Lebensmüde zu sein und an Selbsttötung zu denken, wird als die Folge einer Lebenskrise wahrgenommen, die das Selbstwertgefühl bedroht. Diese kann schon länger bestehen, also chronisch sein, oder sich akut ergeben.

Man denke nur an Adolf Merckle, den Gründer der Arzneimittelfirma ratiopharm, der sein erfolgreiches Geschäft in den Ruin geführt und damit sein Gesicht verloren hatte. Oder an den Internetaktivisten Aaron Swartz, der edle Ziele verfolgte, aber nach der Anklage in den USA wegen Datendiebstahl im Netz mit einem extrem hohen Strafmaß rechnen musste.

Oft ist eine Selbsttötung oder der Versuch, seinem Leben ein Ende zu setzen, aber für Nahestehende schwer begreiflich. „Warum, warum nur hat er das getan?“ Solche Fragen sind meist mit Schuldgefühlen verbunden: „Hätten wir das verhindern können, wenn wir …?“ Solche Überlegungen sind in aller Regel unbegründet. Dennoch: Wer aufmerksam ist und weiß, auf was zu achten ist, kann eventuell Leben retten.

Wer ist besonders gefährdet?

Manchmal ist eine suizidale Handlung über längere Zeit geplant. Freunde und Bekannte bemerken eine gefährliche Zuspitzung der Lage oft nicht, und Warnsignale werden oft übersehen. Manchmal nehmen Angehörige Hinweise auch nicht ernst genug.
Aber eine Selbsttötung kann auch ganz impulsiv aus dem Augenblick heraus erfolgen. Das geschieht insbesondere bei Menschen mit einem hohen Potenzial an Fremdaggression – also an Aggressionen, die sich gegen andere richten. Wie nah die Tendenz zur Selbstaggression und Fremdaggression beieinander liegen, illustriert die Geschichte eines russischen Afghanistan-Kämpfers, der in seinem Soldatenleben bestimmt viele Menschen getötet hat.1 Als er endlich aus dem Dienst entlassen wird, freut er sich auf das Wiedersehen mit seiner Frau und seinem Kind, kauft in Moskau wie verrückt Geschenke ein, kommt nach Hause und findet es leer vor, seine Frau ist inzwischen zu einem anderen Mann gezogen. Ohne zu zögern, greift er zur Pistole. Und erschießt – sich.

Was sind Gründe für einen Suizid?

Viele, die ihr Leben beenden wollen, empfinden erhebliche existenzielle Probleme oder sind psychisch krank.3,10 Menschen mit Depressionen, Schizophrenie oder einem manisch-depressiven Krankheitsbild, das zwischen zwei Polen – extremen Hochs und Tiefs – wechselt, sind besonders gefährdet. Etwa jeder sechste „bi-polare“ Patient stirbt durch einen Suizid, wenn er nicht therapeutisch versorgt ist. Aber auch eine Alkoholerkrankung ist mit einem hohen Suizidrisiko verbunden.

Fragt ein Psychiater einen Patienten nach einem missglückten Suizidversuch, was denn in ihm – etwa kurz vor dem Sprung ins Wasser – vorgegangen ist, hört er oft: Ich weiß es nicht mehr genau. Ich hatte nur den einen Gedanken, sterben zu wollen. Oder es heißt: Ich wollte mich gar nicht umbringen. Ich wollte nur einmal innere Ruhe haben, und deshalb habe ich die 20 Tabletten genommen.

Suizidgedanken

Vielen Menschen kommt irgendwann einmal der Gedanke, ihr Leben zu beenden. Derartige Suizidgedanken können, müssen aber keineswegs Vorläufer eines tatsächlichen Suizids oder Suizidversuchs sein. Wovon es abhängt, ob sie sich Bahn brechen, ist im Einzelfall oft unklar. Es kann ein weiterer Schicksalsschlag sein, aber auch Arzneimittel oder Drogen können dazu beitragen.2 Ein nicht mehr beherrschbarer Suizidimpuls kann plötzlich entstehen. Und unter Umständen wird ein unkonkreter Suizidgedanke sehr schnell umgesetzt – auch wenn er einem bislang völlig fremd war und unnatürlich vorkommt. Darum sind auch vage Suizidgedanken ernst zu nehmen. Und wer selbst so empfindet, sollte mit einem Vertrauten darüber sprechen oder sich einem Arzt oder Therapeuten anvertrauen. Selbst Psychiater besitzen keine sichere Methode, um einen drohenden Suizid immer rechtzeitig zu erkennen und zu verhindern.3

Das Schlimmste verhüten

Zur Primärprävention zählen Maßnahmen, die Anreize zum Suizid senken, also Gedanken an eine Selbsttötung gar nicht erst entstehen lassen. Dazu gehört z.B. auch Verantwortungsbewusstsein von Journalisten und Journalistinnen, die nicht spektakulär über „Selbstmordfälle“ berichten sollten. Auch Maßnahmen, die es erschweren, einen Suizid auszuführen, gehören dazu, etwa schärfere Waffengesetze oder eine Rezeptpflicht für Medikamente, die sich zur Selbsttötung eignen.

Die Sekundärprävention kommt zum Zuge, wenn bereits Selbsttötungsgedanken entstanden sind. Hierfür gibt es diverse Beratungseinrichtungen, Notfallnummern, die Telefonseelsorge sowie psychologische Strategien und Krisenintervention in psychiatrischen Kliniken oder in spezialisierten Suizid-Einrichtungen.

Antidepressiva als Hilfe?

Außerdem stellt sich natürlich die Frage, ob Psychopharmaka – vor allem Antidepressiva – das Suizidrisiko senken können. Das erscheint logisch, wo doch Selbsttötungen häufig von Menschen mit Depressionen begangen werden. Ohne Depressionen gäbe es viel weniger Suizide – so die Überlegung. Dass Menschen, die sich selbst töten, zuvor an schweren Depressionen gelitten haben und oft schon früher einmal versucht hatten, sich das Leben zu nehmen, ist kein Geheimnis. Nicht nur Aaron Swartz litt unter Depressionen, auch der Hannoveraner Torwart Robert Enke. Eine engagierte Berliner Jugendrichterin hatte vor ihrer spektakulären Selbsttötung schon einen Suizidversuch hinter sich.

Zwar wird in der Fachwelt allgemein angenommen, dass antidepressiv-wirkende Medikamente das Risiko für eine Selbsttötung senken können. Aber Tatsache ist leider, dass es dafür keinen Beweis durch klinische Studien gibt.4

Die großen Informationskampagnen zur Depression und die Werbung der Hersteller haben die Verschreibung von Antidepressiva erhöht, aber ob die massenhafte Verordnung von SSRI-Antidepressiva, den so genannten selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern, der Grund für weniger Suizide ist, ist nicht erwiesen. Denn es gibt seither viele andere unterstützende Angebote. In Deutschland sank zudem die Suizidhäufigkeit bereits in den 1980er Jahren – obgleich der große SSRI-Verordnungsboom erst in 1990er Jahren einsetzte. Das passt nicht zusammen. Und mehr noch: SSRI-Antidepressiva stehen sogar im Verdacht, unter bestimmten Bedingungen Selbsttötungen auslösen zu können (GPSP 1/2008, S12).3

Vor diesem Hintergrund verwundert es, dass eine Substanz, die bei bestimmten Formen der Depression in mehreren Studien eine Schutzwirkung erwiesen hat, so wenig angewendet wird. Ärzte sollten sich der Wirksamkeit der Lithiumsalze (siehe Lexikon auf S. 11) stärker bewusst sein, sie gezielt und mit Bedacht verordnen.5 Jedenfalls empfiehlt die aktuelle deutsche Leitlinie zur Behandlung der manisch-depressiven (bi-polaren) Krankheit besonders Lithiumpräparate zur Vorbeugung.

Lesetipp:
Döring G u.a. (2009) Zwischen Selbstzerstörung und Lebensfreude. Hinweise für die Suizidprävention bei Jugendlichen. Herausgegeben von der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention. www.suizidprophylaxe.de/Infos_Suizidalitaet/Broschuere%20Jugendliche/akl_pravention/akl_pravention/akl_start.html#/

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– Gute Pillen – Schlechte Pillen 02/2013 / S.10