Testosteron als „Jungbrunnen“: Mehr Schaden als Nutzen
Sex sells
Manche Männer sind wegen einer Hormonerkrankung oder nach einer Hodenentfernung auf eine Behandlung mit Testosteron angewiesen. Vielen anderen stellt sich – mit Zutun der Anbieter von Nahrungsergänzungsmitteln oder Medikamenten und unkritischer Medien1 – mit zunehmendem Alter die Frage, ob sexuelle Probleme, schwindende Muskelkraft oder depressive Verstimmungen mit einer Abnahme ihres Testosteronspiegels im Blut zu erklären sind und ob sie womöglich mit einer „Hormon(ersatz)therapie“ zu beheben ist.
Davor ist zu warnen! (Siehe GPSP 1/2005, S. 7 und 5/2007, S. 8.) Der Versuch, altersabhängige hormonelle Veränderungen medikamentös zu beeinflussen, ist risikoreich. Kürzlich wurde eine Studie mit durchschnittlich 74jährigen Männern abgebrochen, die Testosteron- Gel beziehungsweise Plazebo-Gel angewendet hatten.2 Der Grund: In der Testosterongruppe hatten erheblich mehr Männer starke Herz-Kreislaufprobleme (nämlich 23, darunter zwei tödliche Herzinfarkte), und ein Nutzen der Hormonbehandlung war nicht erkennbar. In der Plazebogruppe gab es nur 5 solcher Ereignisse, und die waren weniger bedrohlich. Es steht zu befürchten, dass die neue Mode, Männern Testosteron zu verschreiben, mit einer Zunahme von Prostatakarzinomen bezahlt werden muss.
Dass Testosteron keineswegs der Schlüssel zu mehr Sex, Kraft und Lebenslust ist, wurde ebenfalls kürzlich bestätigt: Männer im mittleren Lebensalter mit wenig Lust auf Sex, Schwächegefühl oder Depressionen hatten zwar häufig relativ geringe Testosteronspiegel, andererseits hatte jeder vierte Mann mit ganz normalen Werten die gleichen Beschwerden in Fragebögen angekreuzt. – Testosteronwerte zeigen nämlich eine sehr große Schwankungsbreite, so dass ein „normaler“ Wert und ein individueller „Mangel“ schwerlich fest zu machen sind. Der deutsche Pharmakonzern Boehringer Ingelheim will vorerst die Finger von einem Wirkstoff lassen, der Frauen zu mehr sexuellen Lusterlebnissen verhelfen sollte.3
Anders als Potenzpillen wie Viagra®, die die Blutmenge im Penis und damit dessen Härte erhöhen, wirkt der anfangs als Antidepressivum erforschte Wirkstoff Flibanserin auf Botenstoffe (Neurotransmitter) im Gehirn. Allerdings erwies sich sein Effekt auf sexuelles Verlangen und Lustempfinden als minimal. Frauen, die Flibanserin schluckten, hatten nur wenig mehr erfreulichen Sex. Die Steigerung gegenüber Plazebo war gerade mal ein positives Erlebnis mehr pro Monat.4 Höher waren in der Flibanseringruppe allerdings unerwünschte Wirkungen wie Schwindel und Übelkeit. Vorgesehen war das Präparat für ein Krankheitsbild, von dem umstritten ist, ob es überhaupt existiert: HSDD5 (zu geringes sexuelles Verlangen). Werden die Kriterien entsprechend angelegt, gelten viele Menschen als behandlungsbedürftig. Zum Beispiel, wenn das sexuelle Interesse von 60jährigen Frauen an dem von 25jährigen gemessen wird.
Daraus resultiert dann ein prima Geschäft für Big Pharma. Der Fach begriff dafür ist „disease mongering“, zu Deutsch das Erfinden von angeblich behandlungsbedürftigen Störungen. – Der „Hype“ um Flibanserin ist nun verpufft , denn ein Beratergremium der US-amerikanischen Gesundheitsbehörde FDA empfahl, das Medikament wegen geringer Wirksamkeit, potenzieller Risiken und unklarer Langzeiteffekte nicht zu zulassen. Dass Boehringer Ingelheim vor der Zulassung versucht hatte, durch eine Medienkampagne und bei Fortbildungen für Ärzte das „Krankheitsbild“ HSDD als Neurotransmitterstörung – gegen die Flibanserin wirken sollte – im Bewusstsein zu verankern, wurde dem Hersteller ebenfalls angekreidet.6 Auf Sex auch mal keine Lust zu haben, ist eben keine Krankheit – bei Frauen so wenig wie bei Männern.
Stand: 1. Dezember 2010 – Gute Pillen – Schlechte Pillen 06/2010 / S.10