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© Ocskaymark/iStock

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Digitale Vernetzung zwischen Arztpraxis und Pflegeheim

Klug durchdachte Digitalisierung kann die medizinische Versorgung verbessern. Davon ist die Hausärztin Irmgard Landgraf aus Berlin überzeugt, die seit 20 Jahren für die Betreuung eines Pflegeheims digitale Patientenakten nutzt. Wir haben sie nach ihren Erfahrungen befragt.

GPSP: Es gibt immer wieder Kritik an der medizinischen Betreuung in Pflegeheimen. Was ist dabei die Herausforderung?

In Pflegeheimen leben Menschen, die nicht nur alt, sondern komplex krank sind. Viele von ihnen sind nicht mehr in der Lage, eine Praxis aufzusuchen, richtig Auskunft über ihre Beschwerden zu geben, bei der Diagnostik mitzumachen. Diese schwer kranken Patienten brauchen eine intensive pflegerische und ärztliche Betreuung im Heim. Und die ist nur möglich, wenn Pflegekräfte und Ärzte gut zusammenarbeiten. Aber die aktuellen Pflegeheimstrukturen erschweren diese intensive Zusammenarbeit.

GPSP: Wo liegt das Problem?

In Deutschland hat jeder Pflegeheimbewohner das Recht, von seinem Hausarzt versorgt zu werden. Das führt dazu, dass die Einrichtungen oft mit vielen verschiedenen Ärzten zusammenarbeiten müssen. Die sind alle unterschiedlich erreichbar. Und sie haben eigene Vorstellungen, wie mit gesundheitlichen Problemen umzugehen ist. Die Pflegekräfte verbringen viel Zeit damit, den Ärzten hinterherzutelefonieren. Wenn sie doch jemanden erreichen, dann häufig nur eine Praxismitarbeiterin, die die Informationen an den Arzt weitergibt. Wenn der zurückruft, geht vielleicht eine Pflegekraft ans Telefon, die den Patienten nicht näher kennt. Sie muss erst jemanden suchen, der genauere Auskunft geben kann. Die dringend notwendige, sichere und schnelle Kommunikation ist in solchen Strukturen kaum möglich. Es kann passieren, dass der Arzt erst Tage später alle wichtigen Informationen zusammen hat und reagieren kann. Bis dahin wurde dann möglicherweise aus einem eigentlich harmlosen Harnwegsinfekt eine schwere Infektion. Der Patient muss ins Krankenhaus, was durch ein rechtzeitiges Eingreifen hätte verhindert werden können.

GPSP: Im Krankenhaus wird ihm aber dann wenigstens optimal geholfen?

Im Rettungswagen, in der Notaufnahme und im Krankenhaus fehlen oft die notwendigen Informationen, um so zu reagieren, wie es den Interessen der älteren Patientinnen und Patienten entspricht. Denn viele Pflegeheime arbeiten noch mit Papierakten, die natürlich nicht mit ins Krankenhaus gegeben werden. Meist wird dann diagnostisch und eventuell auch therapeutisch zu viel gemacht. Es werden zum Beispiel Behandlungen eingeleitet, die der Patient gar nicht mehr wollte oder die bereits ausprobiert wurden und nicht geholfen haben. Das belastet die alten Menschen. Und es belastet diejenigen, die die Arbeit machen sowie das Gesundheitssystem insgesamt.

GPSP: Was wäre notwendig, um solche Krankenhausaufenthalte möglichst zu verhindern?

Es ist wichtig, dass ich als Hausärztin den Krankheitsverlauf der Patienten im Blick habe, die Behandlungen kontrolliere und regelmäßig überprüfe, ob ich etwas verändern muss. Alte Menschen nehmen häufig viele Arzneimittel gleichzeitig ein. Ihre Organe funktionieren aber nicht mehr so gut wie bei jungen Menschen. Darum kommt es eher zu Nebenwirkungen oder Interaktionen verschiedener Medikamente. Ich muss bei jedem Symptom, das neu auftritt, fragen: „Ist es eine Nebenwirkung von einem der vielen Medikamente oder ein Anzeichen für eine neue Erkrankung, die therapiert werden muss?“ Nur so kann ich meine Patienten vor einer Unterversorgung schützen und Überversorgung vermeiden.

GPSP: Sie haben eine Praxis und sind im Pflegeheim für 100 Bewohnerinnen und Bewohner zuständig. Wie schaffen Sie es, eine so enge Betreuung zu gewährleisten?

Diese Frage hatte ich mir damals auch gestellt, als ich das Pflegeheim übernahm und sah, wie krank die Bewohner waren. Sie hatten einen hohen Bedarf an ärztlicher Betreuung. Ich wollte aber nicht morgens, mittags, abends, nachts und am Wochenende angerufen und mit Problemen konfrontiert werden, die ich aus dem Stegreif nicht beantworten kann: Wenn Frau Meyer plötzlich einen Zucker von 280 hat, weiß ich nicht aus dem Kopf, wie der Wert vorher war und welche Medikamente sie verträgt. Aber wenn ich nicht angerufen werde und reagiere, vergrößern sich die Probleme. Die Versorgungsqualität, die ich bieten wollte, war neben der Praxis und damals mit zwei kleinen Kindern so nicht zu schaffen.

GPSP: Wie haben Sie die Aufgabe dann gelöst?

Ich musste mich anders organisieren. Das Pflegeheim führte damals eine elektronische Pflegeheim-Akte ein, in die ich mich von der Praxis aus einwählen konnte.1 Wir haben vereinbart: Alle Informationen, die ich wissen muss und die nicht ganz dringend sind, werden über die Pflegeakte übermittelt. Ich schaue morgens und abends rein, um zu sehen, wie es den Bewohnern geht. Die Pflegekräfte wurden darin geschult, mich regelmäßig über Auffälligkeiten zu informieren. Sie müssen – unabhängig von mir – während ihres Dienstes alles dokumentieren, was sie machen und beobachten. Diese Beobachtungen sind für mich sehr wertvoll. Ich kann verfolgen, wie es einem Patienten unter einer Therapie geht, ob das Fieber sinkt oder die Übelkeit nachlässt. Ich habe immer Informationen aus erster Hand, ohne dass ich die Pflegekräfte anrufen muss.

Sehe ich, dass ein Bewohner Beschwerden hat, kann ich viel besser reagieren, weil ich meine Patientenakte vorliegen habe. Steht dort zum Beispiel, dass ein Laborwert schlecht war, kann ich daraus Schlüsse ziehen und sofort die weitere Diagnostik und Therapie planen. Wenn ich der Meinung bin, dass ein Patient ein neues Medikament braucht, schreibe ich die Medikation in die Akte und faxe das Rezept an die Apotheke. Die Pflegekraft sieht in der elektronischen Pflegeakte anhand einer farbigen Hervorhebung, dass sich die Therapie verändert hat. Und kurz darauf liegt das Medikament auf ihrem Tisch. So können wir sehr schnell reagieren.

GPSP: Das hört sich ganz einfach an. Wie haben die Pflegekräfte am Anfang auf die elektronische Pflegeakte reagiert? Waren sie sofort begeistert?

Nein, natürlich nicht. Sie haben erst mal einen Schreck bekommen. Was es enorm erleichtert hat: Wir verwenden digitale Pflegeakten, die optisch aussehen wie die auf Papier. Die Arbeit ist die Gleiche geblieben, nur müssen die Pflegekräfte jetzt tippen und nicht mehr mit der Hand schreiben. Sie haben schnell gemerkt, dass sie einen viel besseren Überblick bekommen, zum Beispiel beim Medikationsplan. Wenn er ständig mit der Hand verändert und Informationen durchgestrichen werden, kann man kaum noch erkennen, welche Medikamente ein Patient aktuell bekommt. Das ist jetzt viel übersichtlicher.

Der Pflegekraft macht es außerdem weniger Arbeit, in die Akte reinzuschreiben: „Patient hustet“, als mir hinterherzutelefonieren. In der Nacht würde das eh niemand machen, sondern den Frühdienst informieren. Der Nachtpflege fällt aber nicht nur eine Sache auf, sondern mehrere, die sie sich merken und weitergeben müsste. Jetzt tragen die Pflegekräfte ihre Beobachtungen direkt in die Pflegeakte ein und haben anschließend den Kopf wieder frei. Das entlastet sie, und der Informationsaustausch ist schneller und sicherer.

GPSP: Die Zusammenarbeit ist einfa­cher geworden. Aber was bringt die Vernetzung den Patientinnen und Patienten?

Im Rahmen meiner Dissertation habe ich die Daten meiner Pflegeheimbewohner verglichen mit ähnlichen älteren Menschen in anderen Pflegeheimen. Sie wurden ebenfalls intensiv hausärztlich versorgt, allerdings ohne digitale Vernetzung.2 Dabei zeichneten sich tendenziell einige positive Effekte ab, zum Beispiel mussten meine Patienten etwas weniger Medikamente einnehmen und verbrachten etwas weniger Zeit im Krankenhaus. Ich wollte außerdem wissen, ob es dadurch zu einer Unterversorgung kam und die Bewohner früher verstarben als in anderen Pflegeheimen. Das ist aber nicht so. Im Gegenteil, es gibt Hinweise darauf, dass sie möglicherweise sogar länger leben als im Bundesdurchschnitt. Ich führe das darauf zurück, dass wir unsere Bewohner so konstant betreuen und frühzeitig auf ihre Beschwerden reagieren.

GPSP: Lässt sich Ihr Modell auf andere Pflegeheime übertragen, wo verschiedene Hausärzte die Bewohner betreuen?

Ich bin sicher, und es haben auch schon mehrere Heime ausprobiert: Unser Modell kann jeder nutzen. Es lohnt sich schon, wenn ich nur zehn Patienten in einem Heim betreue. Man muss einfach anfangen. Mit der Zeit definiert man gemeinsam mit den Pflegekräften immer mehr Standards und sieht, was sich weiter verbessern lässt.

GPSP: Anfang 2021 soll die elektroni­sche Patientenakte kommen …

Das fände ich sehr gut. Unsere Pflegeheimbewohner haben aufgrund ihres Alters meist eine lange Krankengeschichte. Es gibt eine Menge an Vorinformationen, die für mich wichtig wären, die ich aber nicht habe. Ihnen hinterherzulaufen, ist ein frustrierendes Unterfangen. Wir kriegen sie oft nicht oder zumindest nicht vollständig. Ich hoffe, dass sie demnächst in einer gut geführten elektronischen Patientenakte stehen.

GPSP: Lässt sich die elektronische Patientenakte mit der elektronischen Pflegeakte verknüpfen?

Beide Akten werden getrennt bleiben. Aber die Systeme müssen Informationen austauschen können. Ich wünsche mir, dass alle relevanten Informationen aus der elektronischen Patientenakte, die der Patient freigibt, per Knopfdruck übertragen werden können. Das könnte auch den Informationsaustausch mit dem Krankenhaus erleichtern.

GPSP: In vielen anderen Lebensbereichen ist es längst üblich, dass Dokumente virtuell geteilt und von mehreren Personen bearbeitet werden. Warum arbeiten nicht viel mehr Hausärzte und Pflegeheime so wie Sie?

Ein Problem ist die Versorgungslandschaft: Viele Pflegeheime rüsten erst jetzt digital auf. Manche Hausärzte haben auch Angst, mit unnötigen Informationen eingedeckt zu werden. Hinzu kommt: Unsere Arbeit ist durch die Vernetzung sehr transparent. Das gefällt nicht jedem. Ich schätze es aber, als Ärztin gemeinsam mit den Pflegenden in einem Team zu arbeiten. Das verbessert die Versorgungsqualität und die Arbeitszufriedenheit auf allen Seiten.

GPSP: Vielen Dank für dieses Gespräch.

 

Medikamente bei Älteren
GPSP 3/2018, S. 19

Über- und Unterversorgung
GPSP 1/2020, S. 19

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– Gute Pillen – Schlechte Pillen 06/2020 / S.19