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© AlexRaths/iStockphoto.com

Vom Falschen zu viel, vom Richtigen zu wenig

Wie eine Leitlinie den Patientenschutz verbessern will

Es wird zu viel operiert und gemessen, aber zu wenig geredet. Warum bekommen in Deutschland einige Patienten mehr als gut ist und andere weniger als sie benötigen? Wir haben mit dem Mediziner Martin Scherer gesprochen. Er ist Erstautor einer neuen Leitlinie der DEGAM,1 die Unter- und Überversorgung vermeiden will.

GPSP: Viel hilft viel, oder?
Nein, das ist zwar ein gängiger Satz. Aber es gibt auch den: „Weniger ist mehr.“ Dieser Satz passt zur Choosing Wisley-Initiative (siehe blauer Kasten), die den Gedanken, Patienten gut und mit allem Nötigen zu versorgen, international sehr vorangetrieben hat. Und viel hilft eben oftmals nicht viel. Das Problem in Deutschland ist eher, dass wir vom Falschen zu viel haben und vom Richtigen zu wenig. Im Endeffekt geht es darum, Fehlversorgung zu vermeiden, das Richtige zu tun und das Unnötige zu lassen.

GPSP:Was ist schlecht an zu viel?
Wir operieren beispielsweise viel zu viel. Oder wir machen viel zu viel Bildgebung. Ein neues Gelenk ist sehr schnell eingebaut, aber was eben nicht schnell getan ist, ist eine Reha oder multimodale Therapie bei Rückenschmerzen. Die wird zu selten gemacht. Es ist ein Problem, dass hierzulande die Diagnose sehr dominant ist. Sie bestimmt bei uns alles, sie hat einen eigenen Wert. Patienten und Ärzte jagen oft der Diagnose hinterher – was letztlich dazu führt, dass zu viele Untersuchungen gemacht werden.

GPSP:Können Sie das genauer erklären?
Nehmen wir den Rückenschmerz. Da wird in Deutschland zu viel Bildgebung gemacht und zu viel operiert – dafür werden aber viel zu wenig Gespräche geführt. Es gibt zu wenig multimodale Programme, das bedeutet, dass man den Patienten umfassend betrachtet und mit Psychotherapie, Physiotherapie und allem, was man tun kann, behandelt – bevor operiert werden muss. Gleiches gilt in der Therapie von Krebserkrankungen. Da haben wir viel Überversorgung mit Medikamenten, aber viel Unterversorgung im Bereich Information und Kommunikation sowie einer guten palliativen Betreuung.

Oder bei einem Verschluss der Herzkranzgefäße, da stehen viele, viele Herzkatheter einer wenig optimalen medikamentösen Therapie, und schlechten Entscheidungshilfen gegenüber. Wir brauchen Zeit für die gute, sprechende Medizin. Oft jagen wir stattdessen einzelnen Diagnosen hinterher und verlieren den Blick auf den ganzen Menschen.

GPSP:Aber braucht es denn nicht eine Diagnose, um einen Menschen behandeln zu können?
Es kommt darauf an: Stellen Sie sich einen Patienten mit Schwindel vor. Der geht dann zum HNO-Arzt, der ihn untersucht und keine HNO-ärztliche Ursache für den Schwindel findet. Er weist den Patienten auf eine mögliche neurologische Ursache hin und schickt ihn weiter zum Neurologen, der findet keine neurologische Ursache und schickt ihn weiter zum Orthopäden. Der sagt, am muskoloskeletalen System liegt es auch nicht.

Irgendwann landet der Patient dann vielleicht doch bei seinem Hausarzt, einem Allgemeinmediziner. Dieser wird vermutlich feststellen, dass der Patient eine Anämie wegen einer gastrointestinalen Blutung hat und Kreislaufbeschwerden und Schwindel daher rühren. Oft ist es so, dass dieser Blick auf den ganzen Menschen verloren geht, weil viele Fachspezialisten vor allem geräteorientiert arbeiten. Gute Vordiagnostik, also Gespräche, um erst einmal zu hören, was den Menschen umtreibt, das kommt dann oft zu kurz.

GPSP:Wie lässt sich Über- und Fehlversorgung überhaupt messen?
Das ist unglaublich schwer. Wir arbeiten hier mit Vergleichswerten zwischen Ländern. Wenn man zum Beispiel den Einsatz von Kniegelenks- oder Wirbelsäulen-Prothesen anschaut, oder auch die durchgeführten bildgebenden Verfahren wie das der Magnetresonanztomographie, dann kann man die Häufigkeitszahlen zwischen einzelnen Ländern vergleichen und sieht dann im OECD2-Durchschnitt, dass Deutschland da überall Spitzenreiter ist.

GPSP:Vielleicht sind die Ärzte in Deutschland einfach besonders sorgfältig?
Tja, das könnte man meinen, und die Versorgungsrealität ist auch schwer zu messen. Letztlich lässt sich das nur mit Blick auf jeden Einzelfall beurteilen: War das jetzt alles notwendig? Mussten wirklich alle diese Untersuchungen gemacht werden? Und hat jeder bekommen, was nötig ist? Wenn jemand ein neues Hüftgelenk bekommen hat, zahlt die Kasse die Reha sofort. Aber ältere Menschen mit Knieproblemen bekommen nur in den seltensten Fällen eine Reha bewilligt, um wieder richtig fit zu werden. Ein neues Kniegelenk aber, das bekommen sie sofort.

GPSP:Gibt es auch innerhalb Deutschlands Unterschiede?
Ja. In manchen Regionen werden achtmal häufiger die Mandeln entfernt als anderswo. Oder bei Rückenoperationen lassen sich ebenfalls deutliche Unterschiede finden. Wenn Sie in der Nähe von Fulda wohnen, ist es sehr viel wahrscheinlicher, dass sie am Rücken operiert werden als anderswo. Derartige Unterschiede gibt es auch bei Prostata-Operationen genauso wie bei Kaiserschnitten, Stents, Kniegelenken.

GPSP:Woher kommt die Über- und Unterversorgung?
Gegenwärtig gibt es Fehlanreize, also falsche Angebotsstrukturen, die zu einer Flucht in die Menge führen.

GPSP:Welche Anreize sind das?
Derzeit werden wir nicht dafür bezahlt, dass wir uns für Patienten ausreichend Zeit nehmen und ihnen so unzählige, meist teure Untersuchungen ersparen. Wir werden nicht fürs Reden bezahlt, wir werden dafür bezahlt, dass operiert und viel gemacht wird. Diese falschen Vergütungsanreize sorgen dafür, dass die Anbieter viele, viele Patienten und Patientinnen schnell „abarbeiten“, weil sie dadurch ihr Geld kriegen.

GPSP:Welche Probleme gibt es noch?
Es existieren falsche Angebotskapazitäten. Wir brauchen ambulant gar nicht so viele Fachspezialisten, wichtiger wäre, dass wir ausreichend Hausarztpraxen haben. Hinzu kommt die harte Trennung zwischen ambulanter und stationärer Versorgung, gepaart mit mangelnder Koordination. Das alles schwächt die Grundversorgung. Meiner Meinung nach
brauchen wir eine flächendeckende hausarztzentrierte Versorgung. Das könnte meiner Einschätzung nach helfen, das Problem in den Griff zu bekommen.

GPSP:Der Patient soll aber doch frei entscheiden können.
Meiner Meinung nach sollte die erste Ansprechpartnerin die Hausärztin sein, und gemeinsam mit ihr kann der Gang zu einer Fachärztin besprochen werden. Zu welchem Facharzt der Patient dann geht, das bleibt natürlich ihm überlassen.

GPSP:Welche Empfehlungen gibt die Leitlinie zum Beispiel?
Alle Patienten mit Hustensymp­tomen sollen nach ihrem Tabak­konsum gefragt werden, zum Beispiel. Dass der Raucherstatus dokumentiert werden soll, ist so vielleicht nichts Neues, die Leitlinienempfehlung gibt es seit Langem. Aber wir haben gesagt, das ist auch eine Empfehlung, die für die Prävention einer Erkrankung immer noch die wichtigste ist. Oder: Männer, die den Wunsch nach einer Früherkennungsuntersuchung zu Prostatakrebs mittels PSA-Test nicht von sich aus äußern, sollen darauf nicht aktiv angesprochen werden. Anderes Beispiel: Der Hausarzt soll verständlich machen, dass die meisten Halsschmerzen viral bedingt sind, und dass bei Virusinfektionen Antibiotika nicht helfen.

GPSP:Was nutzt das dem Patienten?
Wir haben eigens eine Patienteninformation aus den Empfehlungen der Leitlinie erstellt. Patienten können unter 26 wichtigen Themen auswählen und zum Beispiel nachschauen, welche Früherkennungsangebote sinnvoll sind und welche nicht. Welche Therapien gibt es bei Rückenschmerzen? Muss ich Antibiotika einnehmen? Solche Fragen.

Der Patient bekommt außerdem Hinweise, wie und was er Ärzte fragen muss, damit er das bekommt, was wirklich nötig ist. Medizinische Entscheidungen sollen Patient und Arzt schließlich zusammen treffen. Shared Decision Making wird das genannt.

GPSP:Was erhoffen Sie sich langfristig von der Leitlinie?
Die Leitlinie ist ein sehr guter Anfang, um sich dem Thema überhaupt einmal systematisch zu nähern und zu zeigen, was für den ambulanten Bereich am relevantesten ist. Wir brauchen einen Impuls in die Politik und in die Gesellschaft hinein. Es ist ja oft so, dass ein Weglassen und ein Weniger machen nicht en vogue ist, nicht beliebt ist. Viele Menschen denken, wenn sie ohne eine Spritze, ein MRT oder ein Rezept aus einer Praxis rausgehen, dann ist irgendwie etwas schiefgelaufen. Da müssen wir noch an unserem gesellschaftlichen Medizinbild arbeiten.

GPSP:Wie soll das gehen?
Ich glaube, wir brauchen eine Diskussion darüber, was eine gute Medizin ist. Gerade im Zeitalter der Digitalisierung, wo jeder seine Apple-Watch hat, die ein EKG machen kann und alle mit ihren Wearables3 rumlaufen, oder Siri und Alexa bald Kopfschmerzen behandeln. Wir brauchen eine Diskussion, was eigentlich den Wert der Arzt-Patienten-Beziehung ausmacht. Im Endeffekt sind es Beziehungsfragen.

GPSP:Was raten Sie den Patienten?
Jede Entscheidung mit seinem Hausarzt durchsprechen – ­bevor er einen Facharzt aufsucht. Nicht, weil auch ich ein Hausarzt bin, sondern weil es einen Überblick braucht. Patienten sollten grundsätzlich zurückhaltend gegenüber apparativer Diagnostik sein, genauso bei Operationen. Sie sollten sich und den Arzt immer fragen, was ist die therapeutische Konsequenz, wenn ich mich jetzt ins CT oder in den Kernspin lege? Einfach einmal irgendwo einen Ultraschall-Kopf draufhalten oder ein anderes bildgebendes Verfahren führt oft zu Zufallsbefunden, die eigentlich gar nicht behandelt werden müssten. Trotzdem muss dann weiter abgeklärt werden – was weitere Risiken wie zum Beispiel unnötige Operationen bedeutet.

GPSP:Lässt sich das System wirklich im Sinne der Patienten umgestalten?
Das ist ein gesellschaftlicher Prozess, und es ist ein langer Weg. Aber wir sollten ihn gehen.

GPSP: Vielen Dank für dieses Gespräch.

Richtig nachfragen
GPSP: 6/2016, S. 19

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– Gute Pillen – Schlechte Pillen 01/2020 / S.19