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©Elke Brüser

Gut informiert sein

Warum zuverlässige Patientenleitlinien bei medizinischen Entscheidungen helfen

Muss ich mich als Patient blind darauf verlassen, was meine Ärztin oder mein Arzt empfiehlt? Und kann ich dem glauben, was ich in Zeitschriften und Internet zu meiner Erkrankung finde? Wir haben Corinna Schaefer vom Ärztlichen Zentrum für Qualität in der Medizin gefragt, wie Patientenleitlinien entstehen und warum sie im Gespräch mit Ärzten nützlich sind.

GPSP: Was muss man sich eigentlich unter Patientenleitlinien vorstellen?

Corinna Schaefer: Wir wollen darin die wichtigen Empfehlungen und Inhalte von hochwertigen ärztlichen Leitlinien für Patienten in verständlicher Form übertragen. Die ärztlichen Leitlinien arbeiten das medizinische Wissen zu einer Erkrankung gründlich auf, also zum Beispiel, wie gut der Nutzen für ein bestimmtes Arzneimittel mit Studien belegt ist, und was wir über mögliche Risiken wissen. Dazu kommt bei hochwertigen Leitlinien immer ein Team aus vielen verschiedenen Fachrichtungen zusammen. Das sind nicht nur Ärzte, sondern auch andere Gesundheitsberufe, zum Beispiel Physiotherapeuten oder Psychologen, die mit der Erkrankung zu tun haben und ihre praktischen Erfahrungen einbringen. Aus dem Ganzen entwickelt das Leitliniengremium dann konkrete Empfehlungen, zum Beispiel für die Auswahl der Medikamente, oder welche diagnostischen Maßnahmen sinnvoll sind.

Und die Patienten?

Sie begleiten den gesamten Prozess und sitzen bei ärztlichen Leitlinien und bei Patientenleitlinien mit vollem Stimmrecht am Tisch. Wir bitten sie am Anfang, in ihren Organisationen, also zum Beispiel Selbsthilfegruppen, auch die Erfahrungen von anderen Patienten einzusammeln. So versuchen wir, ein möglichst repräsentatives Bild zu erhalten.

Woher weiß ein Patient, dass die Informationen auch tatsächlich verlässlich sind?

Unsere Leitlinien beruhen auf systematisch recherchierten und kritisch bewerteten klinischen Studien. Außerdem gibt es einen festgelegten Prozess bei dem großen Leitliniengremium, in dem ein Konsens gefunden wird. Nicht, wer dabei am lautesten ruft, bekommt Recht, sondern jede beteiligte Organisation hat genau eine Stimme.

Wie kann man prüfen, ob eine ­Patientenleitlinie zuverlässig ist?

Wie bei jeder Gesundheitsinformation ist es wichtig zu fragen: Wer hat die Leitlinie gemacht und wer hat sie bezahlt? Und Sie sollten auch schauen: Habe ich das Gefühl, dass ich bei manchen Entscheidungen in eine bestimmte Richtung gedrängt werde? Autoren von Patientenleitlinien sind in der Regel überzeugt, dass ihre Empfehlung richtig ist. Aber sie sollten immer transparent darstellen, aus welchen Gründen sie dieser Meinung sind und welche Belege es dafür gibt.

Und natürlich kann sich die Patientin oder der Patient auch gegen eine Empfehlung entscheiden. Dieser Hinweis müsste irgendwo auftauchen.

Wie steht es eigentlich um die Aktualität der Patientenleitlinien des ÄZQ? Zu ganz neuen Medikamenten enthalten sie häufig noch keine Informationen.

Sowohl die ärztlichen Leitlinien als auch die Versionen für Patienten sind in der Regel fünf Jahre gültig und werden dann überprüft. Das Gültigkeitsdatum steht in der Leitlinie. Wenn Medikamente neu in den Markt kommen und einen erheblichen Nutzen haben, gibt es allerdings in vielen Fällen zwischenzeitlich einen aktualisierten Anhang.

Dann ist eine schnelle Aktualisierung also nicht immer nötig?

Es ist sehr selten der Fall, dass neue Medikamente solche Knaller sind, dass sie vielen Patienten das Leben retten. Dann würden Leitlinien-Autoren auch sofort tätig werden. Aber die meisten Medikamente, die neu dazukommen, sind vielleicht ein kleines bisschen besser als die vorhandenen, haben vielleicht ein kleines bisschen weniger Nebenwirkungen, aber sie haben keinen eklatant höheren Nutzen. Selten leiden oder sterben Patienten dadurch, dass sie nicht sofort das neueste Medikament bekommen. Und unsere gründlichen Prüfprozesse haben große Vorteile, denn bei der Bewertung aller vorliegenden Daten zeigt sich manchmal auch Ernüchterung: Vielleicht ist ein Medikament doch nicht so wirksam wie behauptet, oder der Nutzen tritt nur bei bestimmten Patientengruppen auf. Zwar suggerieren vor allem industrienahe Parteien, dass unsere Leitlinien veraltet und nicht verlässlich sind, wenn sie nicht den neuesten Hype enthalten. Aber das kann ich aus der praktischen Erfahrung nicht bestätigen.

Wie gehen Sie mit dem Thema Interessenkonflikte um? Also, dass Empfehlungen möglicherweise dadurch beeinflusst sind, dass einzelne Experten einer bestimmten medizinischen Richtung anhängen oder in engen finanziellen Verbindungen mit Pharmafirmen stehen.

Sie sprechen die Glaubwürdigkeit von Leitlinien an. Seit kurzem gibt es neue Regeln für den Umgang mit Interessenkonflikten: Sie müssen nicht nur erklärt, sondern auch bewertet werden. Das kann zum Beispiel dazu führen, dass sich einzelne Experten bei bestimmten Abstimmungen enthalten müssen. In unseren Patientenleitlinien verweisen wir darauf, wo man die Interessenkonflikte der Beteiligten einsehen kann. Das wichtigste aus unserer Sicht sind die Leitliniengremien mit ihren vielen verschiedenen Vertretern, wo wir möglichst alle unterschiedlichen Interessen an einen Tisch bringen, um eine gemeinsame Linie zu finden.

Das hört sich aufwendig an.

Ja, deshalb dauert die Entwicklung unserer Leitlinien so lange. Es werden da viele harte Diskussionen ausgefochten und Studien teilweise sehr unterschiedlich interpretiert. Und wir verwehren uns übrigens dagegen, dass einzelne Parteien bei den Patientenleitlinien noch Aspekte einbringen, die sie schon bei der ärztlichen Leitlinie nicht durchsetzen konnten.

Warum lohnt es sich für einen Kranken, eine Patientenleitlinie zu lesen?

Sie hilft, einen Überblick über die Krankheit zu gewinnen und die Empfehlungen für Ärzte kennenzulernen. Damit ist sie eine Orientierungshilfe. Patienten können die Ärztin oder den Arzt auch fragen, ob die geplante Behandlung leitliniengerecht ist. Nun kann es gute Gründe geben, von einer Empfehlung abzuweichen, aber dann kann man nachhaken und mit dem Arzt darüber sprechen. Wer über seine Behandlung mit entscheiden will, sollte sich vorher informieren. Das ist natürlich keine Pflicht.

Patienten und Krankheitsverläufe sind sehr unterschiedlich. Kann man überhaupt allgemeingültige Empfehlungen geben?

Keiner muss sich unbedingt an die Empfehlungen halten, sondern man kann individuell schauen, was passt. Und manchmal geben ja schon die ärztlichen Leitlinien keine eindeutigen Empfeh­lungen, weil Experten die Stu­dien sehr unterschiedlich interpretieren. Deshalb findet man etwa in der Patientenleitlinie zur Therapie des Typ-2-Diabetes keine eindeutige Empfehlung, was das beste Medikament ist. Sondern wir führen für verschiedene Optionen die Vor- und Nachteile auf.

Für die koronare Herzkrankheit finden sich ähnlich differenzierte Entscheidungshilfen.

Richtig. Im Verlauf einer Behandlung gibt es öfter Situationen, wo alle Möglichkeiten Vor- und Nachteile haben – etwa bei der Frage, ob überhaupt eine Herzkatheter-Untersuchung sinnvoll ist. Diese werden in Deutschland zu viel und unnötig gemacht und häufig auch zur falschen Zeit und in der falschen Situation. Ob die Untersuchung empfehlenswert ist, hängt davon ab, welche späteren Behandlungsoptionen für den Patienten überhaupt akzeptabel oder möglich sind. Also etwa, ob für ihn eine Herz­operation mit Überbrückung der Blutgefäße (Bypass) überhaupt in Frage kommt. Für solche Situationen haben wir dann jeweils aufgelistet: Welchen Nutzen haben verschiedene Behandlungsformen, und welcher Schaden kann entstehen? Die Tabellen können das gemeinsame Gespräch mit dem Arzt oder der Ärztin unterstützen. Zusätzlich machen wir in den einzelnen Kapiteln der Patientenleitlinien Vorschläge für Fragen an den Arzt.

Was soll ich als Patient machen, wenn mir gar keine Optionen angeboten werden, sondern der Arzt sagt, „das machen wir genauso“?

Außer in Notfällen geht es meist nicht um Leben oder Tod. Fast immer haben Sie Zeit, nochmal nach zu Hause zu gehen und nachzudenken. Bei vielen Krebserkrankungen haben Sie zum Beispiel mehrere Wochen Zeit zu überlegen, will ich mich jetzt operieren lassen oder nicht. Oder bei Diabetes können Sie in Ruhe bedenken, welche Medikamente für Sie in Betracht kommen. Ganz dringender Handlungsbedarf ist selten, etwa wenn es sehr dramatische Befunde gibt. Aber das merkt man eigentlich.

Wäre eine klare ärztliche Entscheidung für manche Patienten nicht auch eine Erleichterung?

Wir haben nur ganz wenige Situationen, wo wir sagen können: „Das zu tun, ist absolut unstrittig“. Ich würde eher demjenigen misstrauen, der sagt: „Ich weiß genau, wie es ist. Mach es genauso.“ Aber wenn mich die Entscheidungen als Patient überfordern, darf ich sie natürlich an den Arzt abgeben, sofern ich ihm vertraue. Sie sollten diese jedoch dann nicht delegieren, wenn Sie merken, dass er ganz andere Behandlungsziele verfolgt als die, die Ihnen selbst wichtig sind. Da sollte man sich trauen aufzumucken, eine zweite Meinung einzuholen oder notfalls den Arzt zu wechseln.

Liebe Frau Schaefer, wir danken Ihnen für die klärenden Informationen in Sachen Patien­ten­leitlinien.

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– Gute Pillen – Schlechte Pillen 06/2016 / S.19