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Behandlungsschäden

Unbürokratische Entschädigung in Österreich

Wer bei einer medizinischen Behandlung Schaden erleidet, muss sich in Deutschland auf eine anstrengende, oft entwürdigende Prozedur einlassen. Erste Anlaufstelle sind die Schlichtungsstellen der Ärztekammern.1 Wenn sie den Schaden nicht anerkennen, bleibt nur der oft jahrelange Rechtsstreit. Anders in Österreich: Dort hat man gute Erfahrungen mit einem Patientenentschädigungsfonds gemacht. Im Krankenhaus erlittene Schädigungen können unbürokratisch kompensiert werden – egal, ob es sich um eine schwerwiegende Komplikation der Therapie oder einen schwierig nachzuweisenden Behandlungsfehler handelt.2

GPSP: Sie sind Leiterin der Wiener Patienten- und Pflegeanwaltschaft.3 Was für Aufgaben haben Sie als Patientenanwältin?

Pilz: Wir beraten ganz allgemein in Fragen des Gesundheitswesens. Darüber hinaus kümmern wir uns um Menschen, die einen Pflege- oder Behandlungsfehler oder eine schwerwiegende Komplikation in einem Spital oder bei einem niedergelassenen Arzt oder bei einer Ärztin erlebt haben. Im persönlichen Gespräch sondieren wir erst einmal gemeinsam die Situation. Die Patientinnen und Patienten schätzen das: Es ist jemand da, der ihnen zuhört, der ihnen kompetent raten kann, ohne dass sie Angst haben müssen, dass die Honoraruhr tickt. Man kann sich wirklich vertrauensvoll an uns wenden, weil wir für die Patienten arbeiten und nicht für die Interessen der Pharmaindustrie, der Ärztekammer oder eines Krankenhausträgers. Wichtig ist mir zu betonen, dass wir außergerichtlich tätig sind, weisungsfrei und unabhängig agieren.

GPSP: Es gibt in Österreich seit 2001 einen verschuldensunabhängigen Patientenentschädigungsfonds. Bei uns in Deutschland schaut man mit großem Interesse auf diese Möglichkeit. Wer zahlt eigentlich in diesen Fonds ein?

Pilz: Sie sprechen gleich den Punkt an, den ich eigentlich am Patientenentschädigungsfonds kritisiere. Unsere Stellen finanziert das Land Wien, aber den Fonds füllen die Patienten ausschließlich selbst mit 0,73 Euro pro stationärem Tag im Spital. Die Beitragszahlung ist gedeckelt auf 28 Tage. Also, wer länger im Spital liegt, muss nicht mehr beitragen. Aber es sind ausschließlich Gelder der Patienten der allgemeinen Gebührenklasse, also nicht die Privatversicherten. Entschädigt werden auch nur Patienten und Patientinnen öffentlicher oder gemeinnütziger Krankenanstalten. Das ist eigentlich keine befriedigende Situation. Beispiel: die Verletzung des Darms bei einer Darmspiegelung zur Früherkennung von Darmkrebs. Wenn diese Komplikation im öffentlichen oder gemeinnützigen Spital passiert, kann der Patientenentschädigungsfonds beansprucht werden, sofern nicht eine Fahrlässigkeit dahinter steckt, sondern eben eine Komplikation. Im niedergelassenem Bereich geht man dann derzeit leer aus.

GPSP: Das heißt, die Patienten bezahlen für Behandlungsfehler im Voraus?

Pilz: Da muss ich jetzt eine wichtige Einschränkung machen. Der Patientenentschädigungsfonds ist nicht dazu da, Behandlungsfehler – und jetzt betone ich das Wort Fehler – zu entschädigen! Denn soweit käme es noch, dass die Patienten selbst den Schaden bezahlen müssen, der sozusagen von anderen zu verantworten wäre. Nein, der Entschädigungsfonds kommt erstens dann zum Tragen, wenn eine Krankenhausbehandlung zu einer schwerwiegenden Komplikation geführt hat – übrigens auch dann, wenn es sich um eine Komplikation handelt, über die er oder sie vorher aufgeklärt wurde. Zweitens in den Fällen, in denen sich ein Behandlungsfehler sehr sehr schwer oder gar nicht beweisen lassen würde und es für den Patienten unzumutbar wäre, einen Gerichtsweg zu bestreiten. Wenn jemand, die Juristen nennen das eine schadensgeneigte Konstitution hat, also beispielsweise eine Wundheilungsstörung oder eine sehr fragile körperliche Befindlichkeit, dann ist das Risiko höher, dass hier eine Komplikation auftritt. Man kann dann hinterher nicht genau sagen, war das jetzt ein Behandlungsfehler oder eine Komplikation.

GPSP: In Deutschland müssen Geschädigte dem Arzt oder der Klinik einen Fehler nachweisen, was oft nicht gelingt.

Pilz: Ja, diese Beweisnot vor Gericht gibt es auch bei uns. Man ist sowohl als Patient im Krankenhaus aber auch vor Gericht in einer verletzbaren Rolle. Bei einer Operation ist man eigentlich gar nicht dabei, weil in Narkose. Wie will man denn da etwas beweisen? Daher habe ich als Patientenanwältin noch eine andere, sehr wesentliche Aufgabe. Wir sind dazu da, auch außergerichtlich den Schaden zu regulieren. Wo wir Behandlungsfehler sehen, verhandeln wir eine außergerichtliche Entschädigung. Wenn die Beweislage schwierig ist, kann der Patientenentschädigungsfonds die Situation wenigstens abmildern.

GPSP: Wer entscheidet, ob jemand Geld aus dem Entschädigungsfonds bekommt?

Pilz: Das Procedere ist so: Ein Patient oder eine Patientin bringt eine Beschwerde ein. Wir prüfen mit unseren Vertrauensärzten, ob ein Behandlungsfehler vorliegt oder ob eine Komplikation eingetreten ist. Wenn wir zu dem Schluss kommen, es handelt sich um eine Komplikation, dann bereiten meine Mitarbeiter den Akt für den Patientenentschädigungsbeirat vor. Dort diskutiere ich im Kreise von juristischen Fachleuten, Ärzten und Ärztinnen über den Fall als solchen. Wir schauen uns die vertrauensärztliche Stellungnahme und die Rahmenbedingungen an und entscheiden dann auf Basis der Schwere der Komplikation und der Folgen für die Betroffenen. Der Vorgang wird unbürokratisch in der Regel innerhalb von drei Monaten erledigt. Ein Rechtsanspruch auf Entschädigung aus dem Fonds besteht nicht.

GPSP: Nun habe ich gelesen, dass die Summen aus dem Entschädigungsfonds geringer sind, als die vor Gericht erstrittenen Schadensersatzzahlungen.

Pilz: Das ist in den Bundesländern unterschiedlich. In Wien haben wir den größten Spielraum und können bis 100.000 Euro im Einzelfall entschädigen. 2012 haben wir 186 Personen insgesamt 1,5 Millionen Euro ausgezahlt.

GPSP: Neben dem Patientenentschädigungsfonds gibt es noch den Freiwilligen Wiener Härtefallfonds. Wann kommt der zum Einsatz?

Pilz: Beim Patientenentschädigungsfonds werden die sozialen Gründe nicht berücksichtigt, da hat sozusagen der reichste Mensch Wiens den selben Anspruch wie der ärmste. Im freiwilligen Wiener Härtefonds berücksichtigen wir die soziale Situation. Er wird aus öffentlichen Geldmitteln gespeist und steht Wienerinnen und Wienern dann zur Verfügung, wenn aufgrund einer Behandlungskomplikation eine besondere soziale Härte vorliegt. Etwa wenn jemand seinen Job nicht mehr ausüben kann oder wenn die Wohnung behindertengerecht umgebaut werden muss.

GPSP: Welche Erfahrungen haben Sie in Österreich mit diesem Patientenentschädigungsfonds gemacht? Nützt er?

Pilz: Er ist für viele Menschen gut, weil sie dann nicht in einer Ohnmacht verharren. Es gibt da ja sehr gravierende Situationen. Wir haben im letzten Jahr jemanden entschädigt, der nach einem Eingriff eine Querschnittslähmung erlitten hat und für den Rest seines Lebens im Rollstuhl sitzen muss. Und wenn dann rauskommt: Schuld war keiner und geben tut’s auch nichts, dann befriedet das, wenn wenigstens die finanziellen Lasten etwas abgemildert werden können.

GPSP: Wollen Sie die verschuldensunabhängige Entschädigung weiterentwickeln?

Pilz: Wir setzen uns dafür ein, dass der Entschädigungsfonds auf mehr Schultern verteilt wird und verschiedene Gesundheitsanbieter einzahlen. Außerdem sollte er auf den niedergelassenen Sektor ausgedehnt werden. Darüber hinaus haben wir in Österreich jetzt eine Debatte, ob man nicht bei Medizinschäden ein ganz neues Modell entwickeln sollte. Die Idee ist ein Medizinhaftungsgesetz, das zwischen den Patienten und dem medizinischen Betrieb eine Versicherung einschiebt, die ähnlich der Unfallversicherung aufgestellt ist, in die Ärzte, Spitäler, andere Gesundheitsberufe, aber auch die Pharmaindustrie, Hersteller von Medizinprodukten, Apotheker und so weiter einzahlen. Im Fall eines Schadens entschädigt diese Versicherung den Patienten oder die Patientin und holt sich bei grober Fahrlässigkeit das Geld vom Dienstleister wieder. Dieses Modell könnte ein anderes Arzt-Patient-Verhältnis ermöglichen: Es gäbe nicht mehr die Konfrontation zwischen einem „schuldigen“ Arzt und einem geschädigtem Patienten in dieser Unerbittlichkeit, dass einer gewinnen muss. Vielmehr ist die Idee: Medizin ist eine komplexe Handlung und wenn hier etwas passiert, kann ja auch Organisationsverschulden dahinter stehen oder die Zusammenarbeit zwischen Pflege und Medizin, die nicht geklappt hat, was zum Beispiel bei Medikamentenverwechslungen immer mal wieder vorkommt.

GPSP: Ist nicht zu befürchten, dass bei verschuldensunabhängigen Entschädigungsregelungen nicht mehr auf die Qualität im medizinischen Betrieb geachtet wird?

Pilz: Ich melde es den betroffenen Krankenanstalten, wenn uns Probleme zu Ohren kommen oder wir aus dem Fonds eine Entschädigungssumme zahlen. Aber wir haben keine Sanktionsmöglichkeiten, das wäre eine wichtige Verbesserung. Die Qualitätsfrage ist sehr wichtig, aber sie lässt sich nicht über die Angst der Ärzte, verklagt zu werden, lösen. Das fördert nur die Defensivmedizin, wie wir es zum Beispiel an der steigenden Zahl der Kaiserschnitte sehen. Die Frage, wie wir Qualität sichern, die sollte auf einer anderen Ebene entschieden werden, nämlich durch die Förderung der Sicherheitskultur, eine gute begleitende Dokumentation und mehr Transparenz.

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– Gute Pillen – Schlechte Pillen 05/2013 / S.19