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Moderne Vermarktungsstrategien

Wie eine Arzneimittelfirma MS-Patienten an sich bindet

Mit der Diagnose „Multiple Sklerose“ (MS) leben hierzulande schätzungsweise 130.000 Menschen – darunter viele junge Erwachsene.1 Für Arzneimittelfirmen ist es attraktiv, Patienten mit chronischen Krankheiten an sich zu binden – denn sie müssen die Medikamente lebenslang einnehmen. Das Beispiel des Unternehmens Biogen zeigt, wie bedenklich diese Bindung sein kann.

MS ist eine chronisch verlaufende Krankheit, die durch akute Schübe gekennzeichnet ist. Wann sie jeweils auftreten, ist nicht vorhersehbar. Es kommt zu Seh-, Bewegungs- und Sensibilitätsstörungen, in vielen Fällen auch zu bleibenden neurologischen Schäden und Behinderung. Medikamente können das Voranschreiten der Erkrankung verzögern, haben aber auch teilweise schwere Nebenwirkungen. MS-Präparate sind extrem teuer.

Die börsennotierte Firma Biogen vertreibt unter anderem das Interferon beta-1a (Avonex®), den monoklonalen Antikörper Natalizumab (Tysabri®) und das seit 2014 zugelassene Dimethylfumarat (Tecfidera®). Diese Wirkstoffe – wie auch Konkurrenzprodukte anderer Hersteller – sollen Schübe und Behinderungen möglichst verzögern. Aber die Nutzenbewertung der einzelnen Medikamente fällt unterschiedlich aus und ist unter Experten umstritten (siehe Kasten S. 24).

Ein Call-Center für alle Fälle

Intensives Marketing und direkte Kontakte zu Patienten und Patientinnen sind Strategien, die für Unternehmen wie Biogen kommerziell wichtig sind – vor allem, wenn das Verhältnis von Nutzen und Risiko im Einzelfall schwer zu beurteilen ist. Laut Heilmittelwerbegesetz (HWG) dürfen Pharmaunternehmen allerdings nicht in aller Öffentlichkeit und schon gar nicht im direkten Kontakt mit Kranken für ihre rezeptpflichtigen Produkte werben.

Biogen sucht daher den Kontakt auf Umwegen: Es unterhält ein „MS Service-Center“, das vom medizinischen Kommunikationsdienstleister Audimedes GmbH betrieben wird.2 Leiterin ist Dr. Gabriele Niemczyk, Managerin für Marketing und Patientenkommunikation bei Biogen!

Das Call-Center bietet gebührenfreie telefonische Beratung für MS-Patienten, Neurologen und MS-Schwestern an. Die rund 30 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen mit unterschiedlichen therapeutischen Ausbildungen informieren zu Themen wie Neben- und Wechselwirkungen von Medikamenten, Pflegeleistungen, Familienplanung oder Ernährung.3 Kostenlose Broschüren und ein Newsletter sind im Internet oder postalisch zu bekommen.

Aber: Hier werden nur unkritische Informationen zur Medikation geliefert, positive Patientenberichte veröffentlicht oder die Vorteile einer „BeActive“-App fürs „Selftracking“ beworben – für MS-Patienten, „die wissen, wie wichtig Bewegung für ihr Wohlbefinden ist“.

Und das ist der Trick: Nicht die firmeneigenen Produkte werden vermarktet, sondern das „Problem MS“ und in dem Zusammenhang Behandlungskonzepte – und zwar über die gesamte Versorgungskette. Allerdings ohne kritische Informationen mitzuliefern. Einmal im Kontakt mit dem Call-Center, werden die Patienten und Patientinnen aktiv in regelmäßigen Abständen von ihrer Betreuerin angerufen.

Dubiose Datensammlungen

In manchen Kliniken lag bis vor kurzem eine vierseitige Einwilligungserklärung des MS Service-Centers aus. Neben personenbezogenen Daten wie Name, Adresse und Berufsstatus werden darin Verlaufsformen und Behinderungsgrade erfragt, zudem derzeitige Therapien mit dem Biogen-eigenen Interferon Tysabri® oder mit Präparaten anderer Hersteller. Auch Aussagen zur Zufriedenheit mit der Therapie, einem Wechsel oder zum Abbruch werden erbeten.

Anscheinend findet das Unternehmen diese Datenerfassungen mittlerweile selbst problematisch. Auf Nachfrage hat die Biogen-Kommunikationsabteilung GPSP versichert: 4 Seit Januar 2014 würden diese Einwilligungserklärungen nicht mehr genutzt und aktuell nur noch die Kontakt-Daten gesammelt. Das einzige Ziel sei, Gesetzes-konformes Informationsmaterial zu verschicken. Alle zuvor erhobenen Daten, die darüber hinausgingen, seien im Januar 2014 gelöscht worden.

Imagewerbung, Aufbau einer Datenbank und Patientenbindung zum Zwecke der Umsatzsteigerung pharmazeutischer Unternehmer – im PR-Jargon „Patienten-Relationship-Management“ genannt – können aber auch mit reinen Kontaktdaten gelingen.

Irritierend ist vor allem, dass unter der Rubrik „Datenschutz“ auf der Homepage des MS Service-Centers weiterhin zu lesen ist: „… bitten wir jeden (…) seine schriftliche Einwilligung zur Erhebung, Speicherung und Verarbeitung seiner personenbezogenen sensiblen Daten über gesundheitliche Verhältnisse (…) zu geben. (…) Biogen erhebt, verarbeitet und nutzt Ihre personenbezogenen Daten nur dann für die Auswertung zu Forschungszwecken, zum Versand von Informationsmaterial (…) wenn Sie Ihre ausdrückliche Einwilligung erteilt haben“.5 Das widerspricht den Aussagen der Kommunikationsabteilung von Biogen. Widersprüchlich ist auch, dass der neue Erfassungsbogen betont, dass die Nutzung personenbezogener Daten durch die Biogen GmbH erfolgt. Gleichzeitig wird versichert, dass die persönlichen Daten „nicht von Biogen eingesehen werden. Die Speicherung und Bearbeitung läuft ausschließlich über das MS Service-Center“.
Es bleiben also viele Fragen offen. Die Suche nach unabhängigen Informationen und evidenzbasierten Behandlungskonzepten bleibt mühsam. Die größten Chancen bieten pharmaunabhängige Patientenorganisationen und Ärzte, die sich industrieunabhängig fortbilden. Bei ihnen sind auch die persönlichen Daten in besseren Händen.

Direktwerbung für Tysabri GPSP 4/2010, S. 8

PDF-Download

– Gute Pillen – Schlechte Pillen 02/2016 / S.23