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Lungenkrebs durch Rauchen?

Der lange Weg vom Verdacht bis zur gesicherten Erkenntnis

In den 1940er Jahren hatte Großbritannien die höchste Lungenkrebsrate der Welt. Zu dieser Zeit rauchten dort rund 80 Prozent der Männer und 40 Prozent der Frauen. Doch konnte wirklich das Rauchen die Ursache für die vielen Krebserkrankungen sein? Waren nicht eher die Abgase von Fabriken, Autos und Kohleöfen schuld? Zwei Statistiker suchten mithilfe von Studien nach einer Antwort – und stießen dabei auf erbitterten Widerstand.

Merkwürdig, ich könnte schwören, jemand hat mich angestarrt. Plakat von London Transport, 1944. Abbildung: Wellcome Library
Merkwürdig, ich könnte schwören, jemand hat mich angestarrt. Plakat von London Transport, 1944.
Abbildung: Wellcome Library

Ein Tag in London 1947. Die beiden Statistiker Austin Bradford Hill und Richard Doll brüten über dem Entwurf einer Studie. Sie soll eine wichtige Frage zur öffentlichen Gesundheit beantworten: Warum sind in den letzten Jahren sechsmal mehr Männer an Lungenkrebs gestorben als noch knapp 20 Jahre zuvor? Zwei Ursachen hat die Wissenschaft damals besonders im Verdacht: 1. die zunehmende Luftverschmutzung und 2. den zunehmenden Tabakkonsum. Ob einer der beiden Faktoren ausschlaggebend ist und wenn ja, welcher, das war in der damaligen Wissenschaft völlig unklar. Denn steigt zum Beispiel die Luftverschmutzung und zeitgleich sterben auch mehr Menschen an Lungenkrebs, muss nicht zwangsläufig die Luftverschmutzung die Ursache für den Lungenkrebs sein. Der Zusammenhang könnte auch durch andere Faktoren vorgegaukelt werden oder ein statistischer Zufallsbefund sein.

Befragung von Patienten mit Lungenkrebs

Hill und Doll mussten deshalb erst einmal Daten erheben. Sie entwarfen dazu einen umfangreichen Fragebogen, der die möglichen Ursachen von Lungenkrebs in den bisherigen Lebensumständen der Erkrankten aufspüren sollte. Eine solche Studienart wird Fall-Kontroll-Studie genannt. Mit ihr kann man nach dem Auftreten einer Krankheit, also im Nachhinein (retrospektiv), durch Vergleich mit Gesunden untersuchen, welche Faktoren die Krankheit begünstigt haben könnten.

1948 startete also in 20 Londoner Krankenhäusern die Befragung von Menschen, die mit Lungenkrebs eingewiesen worden waren. Gleichzeitig interviewte man jeweils eine Kontrollperson: einen Mitpatienten ohne Lungenkrebs, gleichen Alters und Geschlechts, zufällig ausgewählt. Bereits nach 156 Interviews zeichnete sich ein starker statistischer Zusammenhang zwischen Lungenkrebs und Rauchen ab, sodass die Studie auf das ganze Land ausgeweitet wurde.

Bei der Auswertung war es jedoch sehr schwierig, trotz der deutlichen Hinweise einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Rauchen und Lungenkrebs handfest zu belegen: Denn trotz zahlreicher Vorkehrungen war es nicht sicher, ob die Ergebnisse nicht durch die Auswahl der Kontrollpersonen verzerrt waren. Sie unterschieden sich nämlich nicht nur im Rauchverhalten, sondern auch im Wohnort und sozialem Hintergrund von den an Lungenkrebs Erkrankten. War dann vielleicht ein Faktor, der mit Wohnort oder sozialem Hintergrund zusammenhängt, etwa Luftverschmutzung am Wohnort, für den Lungenkrebs verantwortlich und gar nicht das Rauchen? Allerdings stellten die Wissenschaftler zusätzlich auch fest, dass stark rauchende Männer 16 Mal häufiger an Lungenkrebs erkrankten als Nichtraucher. Kann ein so großer Effekt allein durch einen systematischen Fehler im Studiendesign entstehen? Außerdem sahen Hill und Doll, dass starke Raucher wesentlich häufiger Lungenkrebs bekamen als moderate, und diese wiederum häufiger als Nichtraucher. Das alles sprach dafür, dass Rauchen tatsächlich das Risiko für Lungenkrebs erhöht.

Als die Studienergebnisse 1950 erschienen1, kam es jedoch zu heftigen Protesten, auch aus der Ärzteschaft. Ihr wichtigstes Argument: Es erkranken auch Menschen an Lungenkrebs, die gar nicht rauchen.

Die Vorstellung, dass Erkrankungen mehrere Ursachen haben können, war zu dieser Zeit noch nicht weit verbreitet. Doll und Hill gingen natürlich nicht davon aus, dass Rauchen die einzige mögliche Ursache für Lungenkrebs war, aber sie waren sich sicher, dass es die Wahrscheinlichkeit dafür enorm erhöht. Das zeigten auch ähnliche Studienergebnisse aus anderen Ländern, die nahezu zeitgleich veröffent­licht wurden.

Bessere Daten müssen her

Um die Diskussion voranzubringen, entwarfen Hill und Doll eine weitere Studie: Dieses Mal wollten sie Menschen die rauchen oder eben nicht rauchen über einen längeren Zeitraum beobachten, um dann zu vergleichen, in welcher Gruppe mehr Patienten an Lungenkrebs versterben. Diese Studienart nennt man prospektive Kohortenstudie.

Damit konnten sie einige Fehlerquellen der vorherigen Studie ausschließen. Als zu beobach­tende Gruppe wählten die beiden Forscher britische Ärzte. Das bot Vorteile, denn so hatten sie leichten Zugang zu Daten und konnten auf den vermutlichen Kooperationswillen der Ärzte in der Gesundheitsforschung bauen.

Hill und Doll veröffentlichen die Studie 1954 mit den Daten von 25.000 Teilnehmern.2 Die Ergebnisse dieser zweiten Studie deckten sich mit denen der ersten. Und auch eine große
US-amerikanische Untersuchung
kam zu denselben Ergebnissen: Rauchen erhöht das Risiko für Lun­genkrebs.

Zweifel gesät

Doch nun gingen die Diskussionen erst richtig los. Prominenter Kontrahent war der britische Statistiker Ronald A. Fisher, der die Methodik von Doll und Hill kritisierte und sich in sachlichen Diskussionen nicht von der Richtigkeit der Schlussfolgerungen überzeugen ließ.

Der Tonfall von Fisher wurde im Laufe der Zeit immer feindseliger. Er schrieb Leserbriefe an wissenschaftliche Fachzeitschriften, hielt zahlreiche Vorträge und verfasste sogar eine Streitschrift, in der er die vermeintlichen Fehler in den Ergebnissen von Hill und Doll anprangerte.

In den Fängen der Tabakindustrie

Allerdings spielten in der Kontroverse wohl nicht nur wissenschaftliche Differenzen unter Statistikexperten eine Rolle: Fisher war passionierter Raucher und fühlte sich deshalb wohl auch persönlich angegriffen. Er ließ sich später als Berater vor den Karren der Tabakindustrie spannen, die den Streit unter den Wissenschaftlern für ihre Zwecke zu nutzen wusste und fleißig Zweifel am Zusammenhang zwischen Rauchen und Lungenkrebs säte.3 Obwohl bereits 1957 eine umfassende Auswertung aller verfügbaren Daten zu dem Schluss kam, dass Rauchen tatsächlich Lungenkrebs fördert, sollte in Großbritannien erst 1961 der erste zögerliche Startschuss für die schrittweise Regulierung des Rauchens fallen.

Im Laufe der Zeit verdichteten sich die Hinweise, dass Rauchen außerdem das Risiko für viele weitere Krebs- sowie Herz-Kreislauf-Erkrankungen erhöht und auch Passivrauchen schädlich ist. In Deutschland ging es dennoch nur in Trippelschritten voran: 1975 wurde die Tabakwerbung im Radio und Fernsehen verboten. Noch 2003 klagte die Bundesregierung gegen eine EU-Richtlinie, die ein umfassendes Werbeverbot vorsah – allerdings ohne Erfolg. Seitdem darf unter anderem in Print-Produkten und im Internet nicht mehr für Tabakwaren geworben werden.4 Inzwischen gibt es Nicht­raucherschutzgesetze auf Bundes- und Länderebene sowie obligatorische Warnhinweise und abschreckende Bilder auf  Zigarettenschachteln. Deutschland ist übrigens das letzte Land der EU, das Tabakwerbung im öffentlichen Raum, etwa auf Plakaten oder an Haltestellen, erlaubt. Derzeit diskutieren die Regierungsparteien, ob ein entsprechendes Verbot möglicherweise 2022 in Kraft treten könnte.5

Beobachtungsstudien
GPSP 2/2019, S. 6 und 24

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– Gute Pillen – Schlechte Pillen 01/2020 / S.16