Engpässe bei Arzneimitteln
Realität in Deutschland. Und was dahintersteckt.
Ein Albtraum: Die dringend erforderliche Krebstherapie muss auf unbestimmte Zeit verschoben werden, weil ein bewährtes Krebsmittel, für das es keine Alternative gibt, nicht lieferbar ist. Oder eine notwendige antibiotische Therapie scheitert daran, dass die Klinikapotheke bereits seit Längerem auf die Lieferung des Präparats wartet. Szenen aus einem Entwicklungsland? Nein: Versorgungsrealität in Deutschland – oder besser gesagt Versagensrealität.
Fehlen wichtige Arzneimittel und gibt es keine brauchbaren Alternativen, gefährdet das die Patienten. Oder Ärzte müssen auf weniger wirksame, schlechter verträgliche oder teurere Mittel ausweichen.
Lieferengpässe bei Arzneimitteln sind weder Zufall noch schicksalhaft, warnte bereits 2011 das arznei-telegramm®.1 Knapp werden insbesondere Präparate, die gespritzt werden müssen: Krebsmittel, Antibiotika und Notfallmedikamente.2
Wir haben eine leistungsfähige pharmazeutische Industrie und ausgeklügelte Handelswege. Dennoch kommt es zu wochen- oder monatelangen Lieferschwierigkeiten, die vermeidbar wären. Das Problem ist das Bestreben der Unternehmen, Kosten zu reduzieren – koste es, was es wolle.
Möglichst billig
Das fängt beim Einkauf der Rohstoffe an. Diese besorgen sich Hersteller meist möglichst billig auf dem Weltmarkt, häufig in Indien und China. Oder sie lassen gleich das komplette Produkt dort herstellen. Die Folge sind lange Lieferwege. Und wird hierzulande die Qualität einer Lieferung beanstandet, dauert es lange, bis Ersatz kommt. Dann stockt die Produktion. Wie in der Autoindustrie – wo kürzlich schon nach wenigen Tagen Bahnstreik die Produktion gedrosselt werden musste – hat auch die pharmazeutische Industrie ihre Vorräte drastisch reduziert.
Viele multinationale Konzerne bündeln zudem ihre Herstellung von Arzneimitteln weltweit in wenigen Produktionsanlagen, zum Teil sogar in nur einer einzigen. Solche Anlagen produzieren am Rande der Kapazität. Flexibel auf eine erhöhte Nachfrage reagieren kann man damit nicht. Das ist aber wichtig, wenn beispielsweise ein anderer Anbieter wegen Herstellungsproblemen ausfällt.
Warten auf den Impfstoff
So wurden hierzulande in diesem Jahr Impfstoffe gegen Kinderlähmung (Polio) knapp, weil der Hersteller Sanofi Pasteur MSD afrikanische Staaten bevorzugt beliefert hat.3 Da war es kein Wunder, dass in Deutschland Polioimpfstoffe zeitweise nicht erhältlich waren. Zahlreiche Eltern, die mit ihren Kindern planmäßig zum Kinderarzt gingen, mussten zur Kenntnis nehmen, dass eine fällige Impfung nicht möglich war.
Versorgungsengpässe gab es in Deutschland wiederholt auch bei Grippeimpfstoffen: Die Rabattverträge zwischen Krankenkassen und Pharmaherstellern hatten die Versorgung mit Arzneimitteln durcheinandergebracht.
Firmen, die Rabattverträge abschließen, können manchmal die erforderlichen Arzneimittelmengen nicht rasch genug liefern. Das gilt vor allem dann, wenn der tatsächliche Produzent der Ware in Indien oder China sitzt.
Wenn Basisarzneimittel für die Versorgung im Krankenhaus knapp werden – beispielsweise Mittel für Narkose, Antibiotika oder einige Krebsmittel – kann dahinter auch der zunehmende Preisdruck stecken (und Profiterwartungen der Anbieter und Aktionäre).
Manche Arzneimittel braucht man nur für eine relativ kleine Zahl von Patienten, etwa Mittel, die in der Krebstherapie gespritzt werden. Daher produzieren nur wenige Firmen diese Ampullen und Infusionslösungen.1 Das relativ preiswerte Krebsmittel Melphalan (Alkeran®), das zur Therapie von multiplen Myelomen, einem Knochenmarkskrebs, unersetzbar ist, war beispielsweise wochenlang bei uns nicht lieferbar,4 sodass Behandlungen verschoben werden mussten.
Geldschneiderei mit Importen
Bemühungen, fehlende Arzneimittel im Ausland zu beschaffen, können fehlschlagen, weil die Behörden dieser Länder verfügen, dass Arzneimittel zur Versorgung der eigenen Bevölkerung im Land bleiben.5 Manchmal wird sogar aus der Not Profit geschlagen: So beklagen ärztliche Fachgesellschaften, dass für das Krebsmittel Alkeran® statt der in Deutschland üblichen 50 € pro 50 mg teils über 4.000 € gefordert wurden.4
Rechtliche Regelungen überfällig
Zwar sind Pharmahersteller nach dem deutschen Arzneimittelgesetz verpflichtet, eine kontinuierliche Versorgung mit Arzneimitteln sicherzustellen. Verstöße gegen diese Vorschrift ziehen jedoch keinerlei rechtliche Konsequenzen nach sich. Versuche, dies zu ändern, scheiterten auch am Widerstand der pharmazeutischen Industrie.5
Eine Verpflichtung zur zuverlässigen Lieferung sollte am besten auf EU-Ebene verwirklicht werden, betont DER ARZNEIMITTELBRIEF. Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit zeigen, wie Firmen jonglieren: Gegenüber „A-Kunden“, beispielsweise großen Krankenhausketten, sind sie gerne bereit, mit Vertragsstrafen bewehrte – also verlässliche – Liefergarantien abzugeben, während „B-Kunden“, also kleinere Krankenhausgruppen oder sogar kleinere Staaten den Kürzeren ziehen.2
In den USA ist die Zahl von Lieferengpässen seit 2012 aufgrund gesetzgeberischer und politischer Maßnahmen deutlich zurückgegangen. Beispielsweise wurde die Pflicht zur Meldung solcher Probleme ausgedehnt. Bei Nichteinhalten werden Mahnungen der Arzneimittelbehörde öffentlich gemacht und eine alternative Versorgung organisiert.
In Deutschland wurde bislang lediglich ein öffentlich zugängliches Register eingerichtet, in dem Lieferengpässe gelistet werden. Allerdings informieren die Hersteller nur auf freiwilliger Basis, unvollständig und oft zu spät – wenn die Ware bereits nicht mehr vorrätig ist. Dringend müssen längst diskutierte Maßnahmen folgen, wie eine verpflichtende Vorratshaltung für wichtige Arzneimittel sowie die Einführung einer frühen Meldepflicht für Hersteller bei absehbaren Lieferschwierigkeiten.1,2,4,5
Stand: 23. Oktober 2015 – Gute Pillen – Schlechte Pillen 06/2015 / S.08