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Der lange Schatten der Nachzulassung

Appetitzügler endlich vom Markt

Wie lange schaffen es Anbieter, umstrittene Arzneimittel mit juristischen Mitteln auf dem Markt zu halten, obwohl weder langfristiger Nutzen noch Sicherheit ausreichend belegt sind? Wochen – Monate – Jahre? Im Fall von Alvalin® deutlich länger: mehrere Jahrzehnte.

1930: In diesem Jahr kam der Appetitzügler Alvalin® auf den Markt. In den darauffolgenden 90 Jahren ist eine Menge passiert, nur eins nicht: dass der Anbieter Belege zur langfristigen Wirksamkeit vorlegt.1 Umso unglaublicher, dass das Mittel bis vor Kurzem legal im Handel war. Erst in diesem Jahr konnte die zuständige Behörde, das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), einen Schlussstrich ziehen. Der Fall Alvalin® ist ein Lehrstück über die Winkelzüge mancher Anbieter.

Blick in die Geschichte

Dass Anbieter Wirksamkeit und Sicherheit von Arzneimitteln belegen müssen, bevor sie die Mittel auf den Markt bringen dürfen, ist in Deutschland bereits seit über 40 Jahren Pflicht. Damals trat ein neues Arzneimittelgesetz in Kraft. Anlass war der Contergan-Skandal. Zuvor waren viele Mittel unreguliert, seit 1961 mussten Arzneimittel lediglich registriert werden, wurden aber nicht überprüft. Mit dem neuen Arzneimittelgesetz von 1976 mussten sich auch alle Medikamente, die bereits vorher vertrieben wurden, einer Nachzulassung unterziehen: Die Anbieter waren also aufgefordert, der Zulassungsbehörde die entsprechenden Nachweise zu liefern. Um den Anbietern der rund 140.000 Alt-Arzneimittel und wohl auch der Behörde genügend Luft zu verschaffen, gab es recht lange Fristen: Ursprünglich sollte die Nachzulassung bis Ende 1990 abgeschlossen sein, 1992 war nach diversen Verlängerungen und Übergangszeiträumen endgültig Schluss. Eigentlich.2

© Thomas Kunz

Keine Langzeitdaten

Allerdings ziehen sich manche der Nachzulassungsverfahren bis heute hin, weil es rechtliche Auseinandersetzungen zwischen Anbietern und Behörde gab und die Produkte bis zum Abschluss des Verfahrens vorläufig weiter auf dem Markt bleiben durften.

Dazu gehörte bislang auch Alvalin®: Für den Appetitzügler mit dem Wirkstoff Norpseudoephedrin gibt es Untersuchungen zur Wirksamkeit nur über relativ kurze Zeiträume. Wie sich eine längerfristige Einnahme auswirkt, ist bis heute nicht ausreichend untersucht.3

Trotz Sicherheitsbedenken

Was jedoch schon lange feststeht: Ähnlich wie bei anderen chemisch verwandten Appetitzüglern aus der Gruppe der Amphetamine kann es bei der Einnahme zu schweren Nebenwirkungen kommen. Dazu gehören ein plötzlicher Anstieg des Blutdrucks, auch in der Lunge, sowie Abhängigkeit.

Die zuständigen Behörden sind schon seit Langem davon überzeugt, dass bei den Amphetamin-Appetitzüglern die Risiken den Nutzen weit übersteigen. Daher hätten sie eigentlich die Zulassung entziehen müssen. Das wurde auf europäischer Ebene 2001 auch versucht – doch der Europäische Gerichtshof kassierte 2003 aus formaljuristischen Gründen den Beschluss.4 Seitdem waren einige Amphetamin-Appetitzügler in Deutschland wieder auf dem Markt. Für Alvalin® endete der Vertrieb aber schließlich im März 2021: Nach Abschluss eines Gerichtsverfahrens widerrief das BfArM rechtskräftig die Zulassung, der Anbieter musste das Arzneimittel vom Markt nehmen.

Unendliche Geschichte

Für andere Amphetamin-Appetitzügler gibt es aus Perspektive des Verbraucherschutzes leider noch kein Happy End: So ist der Appetitzügler Tenuate® Retard mit dem Wirkstoff Amfepramon weiter auf dem Markt – ebenfalls ohne abgeschlossene Nachzulassung wegen eines laufenden Gerichtsverfahrens. Inzwischen hat die europäische Arzneimittelagentur EMA eine Überprüfung von Amfepramon wegen Sicherheitsbedenken eingeleitet: Arzneimittel mit diesem Wirkstoff stehen unter Verdacht, Herzprobleme und Lungenhochdruck zu verursachen. Außerdem gibt es Hinweise, dass die Mittel missbräuchlich verwendet werden: Anwender:innen scheinen häufig die Höchstdosis und die maximal zulässige Anwendungsdauer zu ignorieren – ebenso wie Warnhinweise, dass die Mittel nicht in der Schwangerschaft eingenommen werden dürfen. Eine Empfehlung des EMA-Ausschusses für Arzneimittelsicherheit ist im Sommer 2021 zu erwarten.5

Was wirklich hilft

Dass Appetitzügler das Problem von Übergewicht nicht nachhaltig lösen können, sollte sich inzwischen herumgesprochen haben. Langfristig hilft es zum Abnehmen nur, Gewohnheiten zu verändern: weniger essen und mehr Kalorien durch körperliche Aktivität verbrauchen.

PDF-Download

– Gute Pillen – Schlechte Pillen 04/2021 / S.06