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„Die Kinderkrankmacher“

Immer mehr Kinder sind angeblich zu wild, unkonzentriert, seelisch instabil – oder viel zu ruhig. Eltern, ihrerseits stressgeplagt, bangen um die Zukunft ihrer Sprösslinge, weil sie womöglich nicht in diese kalte Wettbewerbsgesellschaft passen. Viele suchen medizinische und oft auch schnelle Hilfe.

Dabei geht es längst nicht mehr allein um die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS). „Neue Krankheiten“ sind dazugekommen und neben dem ADHS-Mittel Ritalin® (Wirkstoff Methylphenidat; GPSP 3/2010, S. 11) verordnen Ärzte und Ärztinnen verhaltens­auffälligen Kindern bestimmte Antidepressiva und Neuroleptika – die eigentlich nur für Erwachsene gedacht sind.

Die beiden ZDF-Frontal 21-Redakteurinnen Astrid Randerath und Beate Frenkel beschreiben in ihrem Buch „Die Kinderkrankmacher“, was hinter diesen neuen Krankheiten steckt. Kurz gesagt: Eine unheimliche Marketingstrategie von  Pharmaunternehmen und deren Lobbyisten, die sogar die schlimmen unerwünschten Wirkungen dieser Medikamente oft verschweigen oder verharmlosen (GPSP 1/2012, S. 9).

In vier von fünf Buchkapiteln werden die „neuen Krankheiten“ mit ihren Symptomen und Behandlungsformen vorgestellt: ADHS, Autismus, Asperger-Syndrom, Depression, Schönheitsoperationen, Antibabypille sowie Hormontherapien. Dabei lassen die Autorinnen viele Betroffene zu Wort kommen. Sie befragen außerdem Fachleute und Insider der Pharmabranche zur Strategie der Firmen und erkunden so deren ausgeklügelte Einflussnahme auf Forschung und praktizierende Ärztinnen und Ärzte (GPSP 3/2014, S. 19).

Viele Menschen sind inzwischen überzeugt, dass ADHS eine in den USA erfundene Krankheit ist. Mit ihr wurde das „passende“ Medikament Ritalin® zu einem Milliardengeschäft, schreiben Randerath und Frenkel. „Der Markt mit Medikamenten (…) ist groß. Immerhin: Er stagniert derzeit. 2012 haben Apotheken erstmals zwei Prozent weniger Arzneimittel mit dem Wirkstoff Methylphenidat bestellt. Ein gutes Zeichen?“

Strategen in der Pharmaindustrie erfinden für Kinder, die nicht ins ADHS-Raster passen, längst neue Diagnosen inklusive medikamentöser Therapie. Zum Beispiel Neuroleptika für die, die eher schüchtern wirken oder manchmal „Wutanfälle“ bekommen. Und bei den Antidepressiva ist die Zahl der Verordnungen in den letzten zehn Jahren explodiert (GPSP 4/2013, S. 6).

Kinder: Hormontherapie soll es richten

Aber nicht nur Verhalten und Psyche, auch Unzufriedenheit mit der Physis der Kinder lässt sich gewinnbringend vermarkten. Dabei geht es nicht nur um Schönheitsoperationen. Auch eine Antibabypille wird in den Arztpraxen in bunten Flyern angepriesen und damit zum Lifestyle-Produkt gemacht: Sie verspricht Mädchen Gewichtsabnahme und schöne Haut – zum Schnäppchenpreis (GPSP 2/2011, S. 4). Und viele Ärztinnen und Ärzte machen bereitwillig mit.

Kinder, deren Wachstum nicht so ganz dem Standard entspricht, sind willkommene Patienten. Die „passende“ Hormontherapie soll’s – geschickt verpackt – richten: In einer Zeitschrift für das Wartezimmer berichtet eine fiktive Cartoon-Kinder-Rockband von den tollen Erfahrungen mit der Therapie. Und der Medikamentenhersteller gibt noch eins drauf: ein Maßband in Gitarrenform zur Größenkontrolle und einen Plüschhund als treuen Begleiter für jeden kleinen Patienten zu Beginn der Behandlung (GPSP 5/2012, S. 16).

Das letzte Kapitel haben die Autorinnen den „Kinderstarkmachern“ gewidmet. Es soll allen ein Ansporn sein, die keine Pillenschlucker heranziehen wollen. Hier werden Geschichten von Menschen erzählt, die Kinder fit und lebenstauglich machen – ob von Eltern, Lehrerinnen und Lehrern, therapeutischen Fachkräften und kritischen Medizinern wie die von MEZIS (GPSP 2012/04, S. 12).

Dieses Buch ist schockierend, doch sehr zu empfehlen. Die Autorinnen haben gut recherchiert und ihre Quellen im Anhang sorgfältig dokumentiert. Sie fordern uns alle zum mutigen Umdenken auf: Es ist höchste Zeit zu handeln!

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– Gute Pillen – Schlechte Pillen 03/2015 / S.16