Bachs Welt: Die Familiengeschichte eines Genies
Was wir heute als „klassische“ Musik betrachten, war in vergangenen Zeiten eigentlich „Pop“ (populäre Musik). Und sie hatte auch ihre „Superstars“ wie etwa Johann Sebastian Bach (1685-1750). Über ihn und seine Musik sind schon viele Bücher geschrieben worden. Besonders interessant ist aber ein Werk, dass sich der Geschichte der Familie Bach widmet, aus der sehr viele Musiker hervorgegangen sind. Wussten Sie, dass sein Ururgroßvater, ein Bäckermeister, als evangelischer Glaubensflüchtling aus dem damals ungarischen Pressburg nach Thüringen fliehen musste? Und dass bereits er musikalisch war und das „Cithrinchen“, ein Zupfinstrument, spielte?
In acht Kapiteln beleuchtet der Autor Volker Hagedorn diese außergewöhnliche Familiengeschichte in einem Europa des Umbruchs, das geprägt war von Kriegen – und Seuchen. Deshalb dürfte das Buch auch die Leser:innen von GPSP interessieren, besonders das fünfte Kapitel. Darin geht es um die Pest, die noch drei Jahre vor J.S. Bachs Geburt wütete und vor seiner weitläufigen Familie in Erfurt keinen Halt machte.
Einer der ersten Pestkranken Erfurts war Johann Christian Bach, Direktor der Erfurter Rats- und Stadtmusikanten und ein entfernter Cousin von Johann Sebastian. Leicht angetrunken wankt er an einem verregneten Sommerabend 1682 nach Hause. Ihn plagen Mattigkeit, Schwäche in den Beinen, Atemnot – und ein inneres Brennen, das nicht vom Bier stammt. Morgens lüpft er seine Decke und entdeckt eine dunkelviolette Beule. So formuliert es Hagedorn frei im Präsens. Und so könnte es gewesen sein, denn der Autor hat sein Thema sorgfältig recherchiert. Wir erfahren auch dank sachbuchartiger Exkurse, dass das verantwortliche Bakterium „Yersinia pestis“ die Ursache ist. Es wurde nach Alexandre Émile Jean Yersin benannt, der es 1894 entdeckte. Wird die „Beulenpest“ nicht behandelt, geraten Erreger in den Blutkreislauf der Kranken und können zur todbringenden Lungenpest werden.
Zwei Wochen nach Johann Christian Bachs Erkrankung (er stirbt 1683) wandert auf die Erfurter eine „Welle“ zu. Sie soll aber geheim gehalten werden, denn die Herrschenden wollen den Handel mit den Nachbarländern nicht gefährden. Dennoch müssen sie schließlich eine Quarantäne verhängen: Die Schulen müssen schließen, städtische Bedienstete dürfen die Stadt nicht verlassen. Nicht einmal der Postillon darf Briefe heraustransportieren. Nach und nach werden Todeszahlen bekannt. Und sie steigen derart, sodass sie nicht mehr erfasst werden können. Mit der Seuche geht die steigende Armut einher. Viele Stadtmusikanten, Stadtpfeifer und andere Künstler gehen bankrott. Im Jahr 1683, als sich ein Ende der Epidemie anbahnt, haben von 16.300 Erfurter:innen nur knapp 6.000 überlebt. Auch die Erfurter Bach-Familie verliert fünf Erwachsene und sechs Kinder. Musik wurde auch hier für die Bachs ein Mittel, um Elend und Tod meisterhaft zu verarbeiten, so wie es später auch Johann Sebastian tat.
Volker Hagedorn hat sein Buch aus mehreren Strängen spannend, ja fast schon detektivisch komponiert: biografisch Erzählendes, eigene Archivrecherchen vor Ort, Weltgeschichtliches und Aktuelles rund um die Familie Bach – zum Beispiel in den USA – und noch viel mehr. Abgerundet wird das Buch mit einem üppigen, leider sehr klein gedrucktem Anhang: Fußnotenverzeichnis, Literatur- und Quellenangabe sowie einem zwölfseitigen Namenregister. Eine gut lesbare Landkarte zeigt, wo die sogenannte Erfurter Linie der Bachs lebte und wirkte. Und zum Glück endet das Buch mit einem detaillierten Stammbaum der Familie, der bis zu Johann Sebastian Bach reicht. Das hilft Leser:innen, die vielen „Johanns“ nicht durcheinanderzuwerfen.
Stand: 31. August 2021 – Gute Pillen – Schlechte Pillen 05/2021 / S.19