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Wenn Nichtwissen hilft: Verblindung in klinischen Studien

Erwartungshaltungen können die Wirksamkeit von Medikamenten und die Bewertung des Therapieerfolgs deutlich beeinflussen. Deshalb wird in guten Studien versucht, solche Effekte möglichst auszuschließen.

© DigitalStorm/ istockphoto.com
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In den letzten beiden Folgen unserer Serie „Gute Studien“ haben wir bereits gesehen: Zuverlässige Tests zur Wirksamkeit medizinischer Behandlungen brauchen neben einer Behandlungsgruppe noch eine Kontrollgruppe. Und auch eine zufällige Zuteilung der Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer auf die beiden Gruppen ist notwendig (Randomisierung). Ist beides gegeben, dann ist das schon mal ein guter Anfang. Allerdings kann während der Studie selbst und bei der Auswertung noch eine Menge schiefgehen. Ein wichtiger Faktor, der Ergebnisse verzerren kann: Wenn Patientinnen und Patienten, die behandelnden Ärztinnen und Ärzte, das Pflegepersonal und/oder diejenigen, die die Daten erheben, wissen, wer welches Medikament einnimmt.

Was Wissen bewirkt

Eine klassische Situation in klinischen Studien: Es soll ein neues Medikament getestet werden. Deshalb bekommt die eine Hälfte der Patientinnen und Patienten nach dem Zufallsprinzip das neue Mittel. Die andere Hälfte wird mit dem bisherigen Standardmedikament behandelt. Was kann jetzt passieren, wenn die an der Studie Beteiligten wissen, wer welches Mittel bekommt?1

Patientinnen und Patienten haben oft bestimmte Erwartungen, und die können sich auf körperliche und seelische Reaktionen auswirken. So achtet ein Studienteilnehmer vielleicht ängstlicher auf Nebenwirkungen, wenn er weiß, dass er mit einem neuen Medikament behandelt wird. Oder umgekehrt: Eine Patientin fühlt sich gleich viel besser, wenn sie weiß, dass sie einen neu entwickelten Wirkstoff bekommt. Zudem kann dieses Wissen die Entscheidung beeinflussen, wegen Unverträglichkeit oder ausbleibender Wirkung nicht mehr an der Studie teilzunehmen, sich nicht an die Einnahmehinweise zu halten oder Kontrolluntersuchungen fernzubleiben.

Auch Ärzte und Pflegepersonal sind möglicherweise von der einen Behandlungsmöglichkeit mehr, von der anderen weniger überzeugt. Das kann sich auf die Teilnehmer übertragen und/oder die medizinischen Entscheidungen oder Einschätzungen beeinflussen. Auch die Aufmerksamkeit des Pflegepersonals oder zusätzlich angebotene Behandlungen können sich unterscheiden, je nachdem ob sich der Patient in der Kontroll- oder in der Behandlungsgruppe befindet.

Besonders kritisch: Das Wissen um die Gruppenzugehörigkeit kann sich auf die Bewertung des Behandlungserfolgs positiv oder negativ auswirken und so das Ergebnis der Studie verzerren. Das gilt besonders dann, wenn es für den Erfolg vorwiegend subjektive Maßstäbe gibt, etwa bei der Frage, ob die Behandlung Schmerzen oder einen Hautausschlag gebessert hat.

Abhilfe: Nichtwissen

Um solche Effekte zu vermeiden, bleiben bei qualitativ hochwertigen Studien alle Beteiligten – so gut wie möglich – darüber im Unklaren, wer welches Medikament bekommt. Fachleute nennen das „Verblindung“. Oft ist dazu ziemlich viel Aufwand nötig: So müssen die Informationen über die Gruppen­zuteilung von Ärzten und Pflegepersonal sorgfältig ferngehalten werden. Patienten sollten im Idealfall die beiden eingesetzten Medikamente nicht unterscheiden können. Sie müssen also exakt gleich aussehen und schmecken. Kompliziert wird es etwa, wenn eine Tablette mit einem Mittel ver­glichen wird, das gespritzt werden muss, wenn eins der Mittel einen charakteristischen Geschmack oder Geruch hat oder wenn nur bei einem der Arzneimittel sehr typische Nebenwirkungen auftreten.

Wirklich nötig?

Gerade in solchen Situationen fragen sich vielleicht viele, ob sich die Mühen der Verblindung tatsächlich lohnen. Die Forschung beantwortet das recht eindeutig: Werden Behandlungen mit und ohne Verblindung verglichen, schneiden die ohne Verblindung oft besser ab. Besonders stark ist der Einfluss von Erwartungen, wenn der Behandlungserfolg mit subjektiven Maßstäben bewertet wird, es also zum Beispiel um Schmerzen oder die Schlafqualität geht. Bei objektiven Maßstäben, etwa wenn die Sterblichkeit erfasst wird, hat fehlende Verblindung deutlich geringere Auswirkungen auf das Ergebnis.2

Verblüffende Ergebnisse

Verblindung ist oft schwierig, sollte aber immer versucht werden. Denn manchmal ergeben sich gerade dadurch unerwartete Erkenntnisse: Das konnte ein Forschungsteam feststellen, als es der Frage nachging, ob eine Kniegelenkspiegelung die Schmerzen einer Knie-Arthrose verringert. Bei der Gelenkspiegelung werden kleine Schnitte durch Haut und Gelenkkapsel gesetzt. Durch diese Öffnung lassen sich eine Miniaturkamera und Instrumente ins Knie einführen. Oft wird das Knie dann gespült, Medikamente werden eingegeben und raue Stellen am Gelenkknorpel geglättet.3

In dieser Studie wurde nur bei einem Teil der Patientinnen und Patienten eine solche echte Kniespiegelung gemacht, die anderen erhielten eine Scheinbehandlung, die sich für sie genauso anfühlte: Das Behandlungsteam klapperte zum Beispiel mit Instrumenten und plätscherte mit einer Salzlösung.4 Der Chirurg konnte naturgemäß nicht verblindet werden, erfuhr aber erst jeweils kurz vor der Operation, was er genau tun sollte. Das Pflegepersonal und diejenigen, die die Patienten danach regelmäßig nach ihren Schmerzen befragten, wussten nicht, wer die echte und wer die Scheinbehandlung erhalten hatte. Das Ergebnis: 24 Monate nach der OP hatten die Patientinnen und Patienten mit Scheinbehandlung genauso viele beziehungsweise wenige Schmerzen wie diejenigen, die eine echte Behandlung erhalten hatten. Damit kam diese Studie zu einem überraschenden und ganz anderen Ergebnis als Untersuchungen, in denen die Beteiligten hinsichtlich der tatsächlich durchgeführten Operation nicht verblindet waren.

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– Gute Pillen – Schlechte Pillen 03/2019 / S.10