Fragwürdige Cholesterinsenker: Sparen an der falschen Stelle
Warum Krankenkassen fragwürdige Cholesterinsenker bewerben
Verordnungen von Arzneimitteln, die die gesetzlichen Krankenkassen finanzieren, sollen wirtschaftlich sein – aber auch den vorgesehenen Zweck erfüllen. Dass einige Kassen bei Ärztinnen und Ärzten für die Verordnung von Bempedoinsäure werben, ist daher nicht nachvollziehbar. Denn der Nutzen dieses Cholesterinsenkers ist nicht ausreichend belegt.
Herz-Kreislauf-Erkrankungen gehören zu den Volkskrankheiten und häufigen Todesursachen. Die Frage, wie sich zum Beispiel Herzinfarkte bei Menschen mit einer koronaren Herzkrankheit (KHK) verhindern lassen, ist daher höchst relevant. Welche Mittel für welche Patient:innen und in welcher Situation nach medizinischen Gesichtspunkten am besten geeignet sind und ob bei der Behandlung bestimmte Cholesterinwerte erreicht werden sollen, wird kontrovers diskutiert.
Ist das LDL-Cholesterin erhöht und gibt es noch weitere Risikofaktoren – etwa Übergewicht, Bluthochdruck oder Rauchen, kommt es leichter zu Herzinfarkten. Ebenso auch, wenn jemand zuvor bereits einen Herzinfarkt hatte. Das ist unumstritten.
Aber ob es tatsächlich vorteilhaft ist, während der Behandlung regelmäßig den Cholesterinwert zu kontrollieren, ist unklar, weil das nicht immer mit weniger Herzinfarkten oder dadurch bedingten Todesfälle einhergeht.
Schutz vor Herzinfarkt?
Ob Medikamente vor Herzinfarkten schützen, muss deshalb explizit in Studien untersucht werden. Allerdings werden Arzneimittel oft bereits zugelassen, wenn lediglich die Senkung des Cholesterinwerts belegt ist1. Es kann passieren, dass Ärztinnen und Ärzte bei ihren Verordnungen nicht immer berücksichtigen, dass die Mittel dann nicht automatisch vor Herzinfarkten schützen.
Dass an dieser Fehleinschätzung teilweise auch fragwürdige Empfehlungen in ärztlichen Behandlungsleitlinien beteiligt sind, ist seit Längerem bekannt. Seit Neustem spielen aber auch die Krankenkassen hier eine problematische Rolle.
Nicht nachgewiesen
Gute Pillen – Schlechte Pillen (GPSP) liegen Briefe vor, die die Krankenkassen Barmer und DAK an Arztpraxen verschickt haben, um Medikamente mit zweifelhaftem Nutzen zu bewerben.2 Es handelt sich um Präparate, die den Cholesterinsenker Bempedoinsäure (Markenname Nilemdo®) entweder als einzigen Wirkstoff oder in Kombination mit dem Cholesterinsenker Ezetimib (Markenname Nustendi®) enthalten. Zwar senkte Bempedoinsäure in Studien den Cholesterinwert. Daten zu einem relevanten Nutzen fehlen jedoch gänzlich, also dass Schlaganfälle und Herzinfarkte seltener werden oder die Sterblichkeit sinkt.
Gleichzeitig können die Mittel zu Muskelschmerzen, Magen-Darm-Beschwerden und anderen Nebenwirkungen führen. Für die Kombination mit Ezetimib lassen sich zudem wegen spärlicher Daten keine verlässlichen Aussagen zur Sicherheit machen.
Unsere Mutterzeitschriften arznei-telegramm® und DER ARZNEIMITTELBRIEF sehen keine Notwendigkeit für die Mittel. Gegenüber anderen Cholesterinsenkern ist in der frühen Nutzenbewertung kein Zusatznutzen nachgewiesen.
Eine Frage des Geldes
Trotzdem preist die DAK die Mittel in einem Brief mit dem Betreff „Neue Alternative in der Lipid-Therapie“ bei Ärztinnen und Ärzten an. „Wir haben gute Neuigkeiten für Sie“, schreibt die DAK. Worin genau soll die gute Nachricht bestehen, wenn ein Nutzen der Mittel gar nicht belegt ist?
Der Brief kommt rasch zum Punkt: „Wir freuen uns Ihnen mitzuteilen, dass wir Sie damit bereits kurz nach der Markteinführung bei Ihrer wirtschaftlichen Add-on-Therapie im Lipidmanagement Ihrer Patientinnen und Patienten unterstützen“, schreibt die DAK. Später heißt es nochmals: Durch ihre „Wirtschaftlichkeit“ seien die Medikamente neue Optionen. Der Eindruck drängt sich auf, dass es nicht um den medizinischen Nutzen geht, sondern ums Geld.
Statt Evolocumab
Die Patient:innen, um die es in dem Anschreiben geht, sind Menschen mit einem hohen oder sehr hohen Risiko für einen Herzinfarkt, denn nur für diese ist Bempedoinsäure überhaupt zugelassen. Offenbar verordnen Ärztinnen und Ärzte dieser Gruppe nach der Einschätzung der Krankenkasse viel zu häufig ein anderes Mittel: den sogenannten PCSK9-Hemmer Evolocumab. Auch hier ist der Nutzen eher klein, trotz einer deutlichen Senkung des Cholesterinwerts. In einer Studie mit mehr als 27.000 Patient:innen hatten zwar etwas weniger Menschen einen Herzinfarkt, aber es gab nicht weniger Todesfälle. Weil der Effekt außerdem unsicher ist und einige weitere Fragen offen sind, wurde auch Evolocumab kein Zusatznutzen zuerkannt. Doch zumindest sind solche Daten zum Nutzen überhaupt vorhanden – im Gegensatz zur Bempedoinsäure.
Viel teurer
Allein: Evolocumab ist äußerst teuer und darf deshalb eigentlich nur in seltenen Ausnahmefällen verordnet werden. Allerdings gibt es Hinweise darauf, dass es wohl tatsächlich viel häufiger verschrieben wird. So berichtet es der Arzneiverordnungs-Report in einer Analyse der Verordnungsdaten für 2019. Dass die Kassen das einschränken wollen, ist erst einmal nicht zu beanstanden. Allerdings ist der Alternativvorschlag Bempedoinsäure noch schlechter, auch wenn er die Kassen weniger kostet.
Widersprüchliche Antworten
Auf Anfrage von GPSP zum Brief verwickelte sich ein Sprecher der DAK in Widersprüche: „Hintergrund ist, dass Ärztinnen und Ärzte zum Teil von der Anwendung von PCSK9-Hemmern absehen […] weil sie die im Vergleich zu vorherigen Therapiestufen deutlich höheren Kosten vermeiden wollen […]“. Das passt weder zu den Verordnungsdaten noch zum Wortlaut des DAK-Briefs: Denn dort werden Ärztinnen und Ärzte explizit darauf hingewiesen, dass Evolocumab unwirtschaftlicher ist. Deshalb ist es offenbar nicht zutreffend, was die Kasse weiter schreibt: Sie lege „lediglich transparent offen, welche Behandlungsalternativen es gibt“.
Schlechte Vorschläge
Auch die Barmer macht Ärztinnen und Ärzte in einem Schreiben auf die neuen Medikamente aufmerksam. Die Lipid-Therapie sei im Wandel, es gebe einen Bedarf an neuen Therapieoptionen. Das Ziel, so kann man den Brief verstehen, sei das Erreichen eines bestimmten „optimalen“ Cholesterinwerts mit dem „geringsten Mortalitäts-Risiko“. Sprich: Die Krankenkasse suggeriert, cholesterinsenkende Mittel seien so zu dosieren und zu kombinieren, dass ein bestimmter Cholesterinwert erreicht wird, der wiederum ständig gemessen werden müsse.
Doch der Ansatz ist eben umstritten. Dass eine stärkere Cholesterinsenkung nicht gleichzeitig Leben rettet, hat zum Beispiel die Studie zu Evolocumab gezeigt.
Mangelhafte Empfehlungen
Ein großer Teil der Risiko-Patient:innen erreiche mit den bewährten Mitteln die in Leitlinien empfohlenen Cholesterinwerte nicht, sagt die Barmer-Sprecherin zur Rechtfertigung des Briefs, ohne auf die Frage zum zweifelhaften Nutzen dieser Vorgaben einzugehen. Dabei ist die Leitlinie der Europäischen Kardiologie-Gesellschaft, die strenge Cholesterin-Zielwerte empfiehlt, wegen wissenschaftlicher Mängel und Industrienähe der Autoren vielfach kritisiert worden. Das arznei-telegramm® und einige medizinische Fachgesellschaften raten davon ab, die Therapie an den Cholesterinwerten auszurichten.3 Stattdessen ist ein Statin in hoher Dosierung Mittel der Wahl bei Patient:innen mit KHK und hohem Herzinfarkt-Risiko. Andere Cholesterinsenker, konkret genannt werden Evolocumab sowie Ezetimib, kommen nur infrage, wenn Statine nicht vertragen werden.4
Informieren – aber wie?
In ihren Anschreiben verweisen die Kassen auf ihre Verpflichtung nach dem Sozialgesetzbuch, Ärztinnen und Ärzte über eine wirtschaftliche Verordnungsweise zu informieren.5 Allerdings steht dort auch explizit, dass dabei auch Hinweise zum therapeutischen Nutzen gegeben werden sollen. Dass es in dieser Hinsicht bei Bempedoinsäure und der Zielwert-Strategie für LDL-Cholesterin erhebliche Zweifel gibt, wird in den Kassenschreiben aber nicht thematisiert.
In ihren Antworten auf unsere Fragen verweisen die Krankenkassen immer wieder auf die ärztliche Therapiehoheit und die Aufgaben der Zulassungsbehörden bei der Bewertung von Studien zur Wirksamkeit und Sicherheit. „Ob diese ausreichend sind, muss die medizinisch wissenschaftliche Diskussion zeigen“, heißt es von Seiten der Barmer. Doch genau auf diese Diskussion weist die Krankenkasse die Ärztinnen und Ärzte nicht hin.
„Selbstregulierend“
Bei den Cholesterinsenkern lässt sich letztlich ein Mechanismus beobachten, wie ein Markt für neue Mittel geschaffen und bedient wird: Die Anbieter entwickeln neue teure Medikamente, die den Cholesterinwert senken. Ob sie aber tatsächlich vor Herzinfarkten schützen, wissen Patient:innen, Ärztinnen und Ärzte frühestens einige Jahre nach der Zulassung. Industrienahe Leitlinien geben niedrige zu erreichende Cholesterinwerte vor und schüren damit den Bedarf an neuen Mitteln.
Die Krankenkassen lassen sich vor den gleichen Karren spannen, bewerben die möglicherweise unwirksamen Mittel bei Ärztinnen und Ärzten – und rechtfertigen das ausgerechnet mit dem Wirtschaftlichkeitsgebot. Wie wäre es stattdessen mit einem Hinweis darauf, für welche Mittel und Behandlungsstrategien tatsächlich gute wissenschaftliche Belege vorhanden sind? Was die Kassen da sparen könnten…6
Patientennutzen
GPSP 5/2019, S. 22
Zielwerte LDL-Cholesterin
GPSP 2/2020, S. 4
Bempedoinsäure
GPSP 3/2021, S. 4
Evolocumab
GPSP 5/2017, S. 10
Ezetimib
GPSP 6/2015, S. 25
Stand: 31. August 2021 – Gute Pillen – Schlechte Pillen 05/2021 / S.04