Schulmedizin? Weg mit dem Begriff!
Besser einfach von „Medizin“ sprechen
Die Medizin wird im alltäglichen Sprachgebrauch gerne in zwei Bereiche unterteilt: Schulmedizin und Alternativmedizin. Doch dieses Begriffspaar gaukelt Unterschiede und Gegensätze vor, die es so gar nicht gibt. Was Medizin ist und was nicht, hat nichts mit unterschiedlichen „Schulen“ zu tun. Wichtig ist etwas ganz anderes.
Der Duden beschreibt „Medizin“ als „Wissenschaft vom gesunden und kranken Organismus des Menschen, von seinen Krankheiten, ihrer Verhütung und Heilung“. Diese Definition beginnt mit einem entscheidenden Wort, nämlich Wissenschaft. Der Duden beruft sich damit auf den einzigen Standard, der Medizin charakterisieren kann: Jedes medizinische Verfahren – egal, ob es zur Diagnostik, zur Behandlung oder zur Prävention gehört – muss den wissenschaftlichen Nachweis erbringen, dass es mehr nützt als schadet oder besser ist als der bisherige Standard.
Wozu also die Einteilung in Schulmedizin und Alternativmedizin? Dieses Begriffspaar suggeriert, dass es in der Medizin zwei gleichwertige Lehrschulen gäbe. Das ist falsch. Dieser Irrweg geht nicht zuletzt auf ideologische Betrachtungsweisen im nationalsozialistischen Deutschland zurück.
Anfänge der „Schulmedizin“
Der Begriff „Mediziner der Schule“ tauchte 1832 zum ersten Mal auf. Der Begründer der Homöopathie, Samuel Hahnemann, bezeichnete so all jene, die seiner Theorie, man könne Gleiches mit Gleichem erfolgreich behandeln, kritisch gegenüberstanden. 1880 setzte der Laienhomöopath Heinrich Milbrot „Schulmedizin“ als Kampfbegriff ein, um damals etablierte medizinische Methoden abzuwerten.
Die medizinische Wissenschaft machte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts große Fortschritte, die das Potenzial hatten, der gesamten Menschheit zu nutzen. Der erste Impfstoff gegen Diphtherie, das erste Medikament gegen Syphilis, die Entdeckung von Insulin und Penicillin. Das alles gefiel den „Rassehygienikern“ der Nationalsozialisten nicht. Sie bevorzugten Forschung, die einem „gesunden Volkskörper“ diente und die angebliche eigene biologische Überlegenheit untermauern sollte.
Der Begriff Schulmedizin sollte also von Beginn an die üblichen medizinischen Verfahren in Zweifel ziehen. Nationalsozialistische Ideologen perfektionierten diesen Ansatz. Zuerst werteten sie alternative medizinische Ansätze weiter auf, um jüdischen Ärztinnen und Ärzten das Arbeiten zu erschweren. „Verjudete Schulmedizin“ wurde zum Kampfbegriff, um sowohl jüdische Mediziner:innen als auch die wissenschaftlichen Verfahren zu diskreditieren. Jüdische Professor:innen wurden bereits ab 1933 aus ihren Arbeitsstellen vertrieben. Später wurden auf Grundlage der berüchtigten Nürnberger Gesetze Menschen jüdischer Abstammung untersagt, ärztlich tätig zu sein, und nichtjüdische Ärzte und Ärztinnen sollten keine Menschen jüdischer Herkunft mehr behandeln.
Der Aufstieg der „Alternativmedizin“
Die Nazis haben auch entscheidend dazu beigetragen, dass die Alternativmedizin als Konzept Auftrieb bekam. Schon 1933 erschien im Deutschen Ärzteblatt ein Plädoyer für die „häufige Überlegenheit“ von alternativen gegenüber etablierten medizinischen Verfahren. Sie wollten eine „ganz neue, deutsche Heilkunst entwickeln“, wie es der Arzt Erwin Liek formulierte. Er war ein Anhänger der Euthanasie und Eugenik und spitzte damit zu, was sich viele Mediziner:innen dieser Zeit wünschten – ganz im Sinne der nationalsozialistischen Idee.
Schließlich wurde das Heilpraktiker-Recht verschärft, damit jüdische Ärzte und Ärztinnen auch nicht mehr als Heilpraktiker arbeiten konnten. Die Nazis verunglimpften sie als „Krankenbehandler“, die nur noch jüdische Menschen behandeln durften. Diese Repressalien und die anschließende Emigration oder Ermordung jüdischer Ärzt:innen trug zu einem Versorgungsmangel bei, der noch lange nach dem Krieg spürbar war. Das Heilpraktikergesetz galt in Westdeutschland weiter, so konnten auch Menschen, die nicht Medizin studiert hatten, Behandlungen anbieten. Damals half es, den „Medizinbetrieb“ funktionsfähig zu halten, sorgt aber heute dafür, dass Heilpraktiker:innen oft als gleichwertige Alternative zu Hausärzten und -ärztinnen wahrgenommen werden und damit auch ihre zumeist nicht wissenschaftlich bestätigten Methoden.
Teile der alternativmedizinischen Szene liebäugeln bis heute mit dem Erbe der nationalsozialistischen Narrative. So ist es auch kein Zufall, dass die einschränkenden Corona-Maßnahmen mit ähnlich kruden Parolen kritisiert wurden, wie zuvor schon Impfungen oder Chemotherapie: „Holocaust am Deutschen Volk“ sei das. Die Kritiker:innen der Corona-Maßnahmen vergleichen sich gar mit unterdrückten Jüdinnen und Juden im Dritten Reich.
Es gibt keine Schulen in der Medizin
Der Begriff Schulmedizin lehnt sich an das Wort Schulweisheit an und soll damit andeuten, dass es sich dabei um eine verstaubte und überholte Lehre handele. Dagegen soll der Begriff Alternativmedizin Assoziationen mit einer frischen, unkonventionellen Schule erzeugen.
Doch in Wahrheit ist es genau andersherum: Die üblichen Verfahren sind durch streng definierte Methoden der medizinischen Wissenschaft abgesichert, den alternativen fehlt in der großen Mehrheit der Wirkungsnachweis. Sie prüft ihre Verfahren nicht. Die Medizin, die nach dieser Denkart als althergebrachte Schule verunglimpft wird, entwickelt sich dagegen fortlaufend weiter und stellt sich selbst kritisch auf den Prüfstand.
Schon das Bild zweier unterschiedlicher Schulen ist problematisch, denn es suggeriert verschiedene gleichberechtigte Glaubensrichtungen – das Gegenteil einer nüchternen wissenschaftlichen Herangehensweise. Die Idee, jeweils „das Beste“ aus beiden „Schulen“ zu wählen und es zu einem „Besseren“ zusammenzusetzen, ist wissenschaftlich absurd.
Die berechtigte Kritik an einem apparatezentrierten, profitorientierten Gesundheitswesen, das zu oft das Patientenwohl gefährdet, sollte ohne die künstliche Konstruktion eines solchen Gegensatzes auskommen. Wir sollten deshalb aufhören, von Schulmedizin und Alternativmedizin zu reden, sondern von nachweislich wirksamen und nicht-wirksamen Verfahren. Und „ärztliche Empathie und Zuwendung sind im Rahmen der wissenschaftlich fundierten Behandlung wesentliche Elemente einer patientenorientierten Medizin.“ (M. Anlauf)
Stand: 1. November 2021 – Gute Pillen – Schlechte Pillen 06/2021 / S.18