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© Yuri_Arcurs/ iStockphoto.com

Riskante Geburtseinleitung?

Aufregung um das Medikament Cytotec®

Wenn eine Geburt eingeleitet werden muss, wird in Deutschland dafür häufig der Wirkstoff Misoprostol verwendet, der in Tablettenform unter dem Handelsnamen Cytotec® auf dem Markt ist. Für diesen Zweck ist das Mittel allerdings nicht zugelassen und geriet deshalb kürzlich in die Kritik: Laut Medienberichten soll es Babys und Frauen geschädigt haben. Die Geschichte ist jedoch komplexer, als es auf den ersten Blick erscheint.

Im Februar schien es, als hätten die Süddeutsche Zeitung und der Bayerische Rundfunk einen Skandal in der Geburtshilfe aufgedeckt: Sie schilderten in dramatischen Geschichten, dass Frauen zur Geburtseinleitung das dafür nicht zugelassene Arzneimittel Cytotec® erhielten – und Schlimmes erlebten: Sie berichteten von sehr starken Schmerzen, unerträglich heftigen Wehen (Wehensturm) und sogar von Gebärmutterrissen. Dies habe zu Komplikationen, in einigen Fällen zu Behinderungen des Kindes und sogar zum Tod der Mutter geführt.1 Über das Medikament und seine Risiken und Nebenwirkungen seien die Frauen nicht aufgeklärt worden. Was ist dran an den Vorwürfen? Eine der Mutterzeitschriften von GPSP, das arznei-telegramm®, hat die Sachlage genauer be­trach­tet.2

Wann einleiten?

Rund jede fünfte Geburt in Deutschland wird eingeleitet. Das heißt, die Wehen werden künstlich ausgelöst, meist mit Medikamenten. Gründe dafür können eine Erkrankung der Frau oder ein vorzeitiger Blasensprung sein. Der häufigste Anlass ist jedoch, dass der errechnete Geburtstermin verstrichen ist. Ab einer „Übertragung“ von etwa zehn Tagen nach dem errechneten Termin empfehlen Ärztinnen und Ärzte oft eine Geburtseinleitung, weil das Risiko für eine Schädigung des Kindes im Mutterleib dann deutlich ansteigt. Wann eine Einleitung wirklich nötig ist, wird allerdings in der Fachwelt kontrovers diskutiert. Und es gibt in Deutschland auch keine aktuelle Aufarbeitung des Wissensstands für Ärztinnen und Ärzte.

Verschiedene Wirkstoffe

Für die medikamentöse Geburts­einleitung werden verschiedene Wirkstoffe eingesetzt, die als Tablette, Gel oder Zäpfchen in der Scheide oder als „Wehentropf“ angewendet werden. Dazu gehören Misoprostol, Dinoproston und Oxytoxin. Ein Medikament mit Misoprostol ist in mehreren EU-Ländern als Tablette oder als Scheiden-Gel zur Geburtseinleitung zugelassen. US-amerikanische und kanadische Leitlinien sowie die Weltgesundheitsorganisation empfehlen Misoprostol, die australischen und englischen Leitlinien jedoch nicht oder nur in Sonderfällen.

In Deutschland gibt es für diesen Zweck derzeit kein zugelassenes Arzneimittel mit Misoprostol. Das Medikament Cytotec® enthält zwar den Wirkstoff Misoprostol, ist aber nur als Magenmittel zugelassen. Wenn es in der Geburtshilfe eingesetzt wird, handelt es sich um einen sogenannten Off-Label-Use, also den Einsatz außerhalb der Zulassung. Ärztinnen und Ärzte dürfen Medikamente nur dann „off-label“ verwenden, wenn sie Patientinnen und Patienten vorher darüber informieren – also über Nutzen, Risiken und Nebenwirkungen aufklären – und diese zustimmen.

Gute Datenlage

Anders als in manchen Presseberichten dargestellt, gibt es aussagekräftige Studien für Misoprostol zur Geburtseinleitung: Eine systematische Übersichtsarbeit der Cochrane Collaboration von 2014 hat 75 Studien mit insgesamt knapp 14.000 Teilnehmerinnen ausgewertet. Hier zeigte sich Misoprostol als Tablette etwa gleich wirksam wie Scheiden-Gele mit Misoprostol oder Dinoprost und hinsichtlich Wehenstürmen ähnlich sicher; möglicherweise sind Kaiserschnitte etwas seltener nötig, wenn die Geburt mit Misoprostol-Tabletten eingeleitet wurde. Bei höheren Dosierungen oder wiederholter Gabe von Misoprostol nehmen Wehenstürme jedoch zu. Unter den 14.000 Teilnehmerinnen waren schwere Nebenwirkungen wie Gebärmutterrisse zu selten, um verlässliche Aussagen dazu machen zu können.

Riskanter scheint Misoprostol dann zu sein, wenn es in der Scheide oder unter der Zunge angewendet und nicht geschluckt wird. Dann wirkt es offenbar langsamer, aber insgesamt stärker und unregelmäßiger. Das Risiko für einen Wehensturm steigt, die Herztöne des Kindes können schwächer werden. Laut arznei-telegramm® ist eine orale Misoprostol-Anwendung in einer Dosierung von 20 bis 25 Mikrogramm alle zwei Stunden beziehungsweise bis zu 50 Mikro­gramm alle vier Stunden wirksam und sicher und entspricht dem medizinischen Standard.

Eine Frage der Dosis …

Diese Ergebnisse der Studien mit Misoprostol sind ein Grund dafür, dass es in Deutschland in der Geburtshilfe seit Langem eingesetzt wird, auch wenn es dafür nicht zugelassen ist.

Allerdings gibt es offensichtlich ein Problem mit der Dosierung des Wirkstoffs: Eine Tablette Cytotec® enthält 200 Mikrogramm Misoprostol – also vier- bis zehnmal mehr als die Dosis, die für die Geburtseinleitung benötigt wird. In den Medienberichten ist die Rede von „mit einem Messer zerteilten Tabletten“.3 Das birgt das Risiko einer falschen Dosierung, denn niemand kann per Messer eine Tablette in so kleine Bruchstücke mit exakt gleichem Wirkstoffgehalt zerteilen.

Einige Krankenhausapotheken fertigen wohl Misoprostol-Kapseln in niedrigen Dosierungen an, was für eine verlässliche Wirkstoffmenge sorgt. Allerdings gibt es aufgrund der fehlenden Zulassung in Deutschland keine standardisierten Vorgaben zur Dosierung bei der Geburtseinleitung – bei zugelassenen Präparaten wird das systematisch untersucht. Dadurch ist das Vorgehen in den Kliniken sehr uneinheitlich.

… und der Aufklärung?

Auch berichten Frauen, dass sie nicht ausreichend auf Risiken hingewiesen worden sind. Seitdem Medienberichte dazu erscheinen, finden sich zahlreiche Beiträge von Frauen im Internet, die von Wehenstürmen, zu knapper oder keiner Aufklärung, von zu wenig Unterstützung im Kreißsaal und schlechter Behandlung erzählen. Systematische Studien dazu sind uns jedoch nicht bekannt. Mittlerweile hat das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte einen Rote-Hand-Brief  4 zu Cytotec® veröffentlicht. Danach sind bei der Behörde in den letzten Wochen zahlreiche neue Meldungen zu schweren Nebenwirkungen bei der Geburtseinleitung eingegangen. Dazu haben wohl auch die Medienberichte beigetragen. Allerdings sind Ärztinnen und Ärzte gerade beim Off-Label-Use immer verpflichtet, unerwünschte Wirkungen zu melden. In dem Schreiben betont die Behörde, dass Cytotec® nicht zur Geburts­einleitung zugelassen ist. Sie verweist darin auf alternative zugelassene Wirkstoffe sowie auf das in anderen EU-Staaten zugelassene Tabletten-Präparat mit den Wirkstoff Misoprostol mit der passenden Dosis. Es kann nach Deutschland importiert werden. Diese behördliche Mitteilung dürfte nach Einschätzung des arznei-telegramm® das Aus für den Off-Label-Use von Cytotec® in Deutschland bedeuten.

Geburts­einleitung
GPSP 5/2013, S. 7

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– Gute Pillen – Schlechte Pillen 04/2020 / S.10