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© Jörg Schaaber

Psychische Erkrankungen: Die Macht der Definition

Um Patienten gut zu behandeln, müssen Ärztinnen und Ärzte die Beschwerden und Symptome ihrer Patienten korrekt einordnen, also die richtige Diagnose stellen. Dazu nutzen sie – neben ihren Kenntnissen aus Aus- und Weiterbildung – das Handbuch International Classification of Diseases (ICD), das die Weltgesundheitsorganisation herausgibt. Doch was künftig als psychisch krank definiert wird, darauf wird gerade von anderer Seite Einfluss genommen.

In den USA gibt die Amerikanische Psychiatrie Gesellschaft (APA) nämlich ein Konkurrenzprodukt heraus, das Diagnostic and Statistical Manual of Psychiatric Disorders (DSM). Von Zeit zu Zeit wird das DSM neu aufgelegt. Aber besonders jetzt, bei der 5. Auflage (DSM-5), ist zunehmend Kritik an dem Manual zu hören, und zwar sogar aus den Reihen der beteiligten Wissenschaftler. Der Grund: Das Klassifizierungsschema basiert eher auf Expertenkonsens als auf wissenschaftlichen Erkenntnissen. Ein wunder Punkt, denn schon in der 4. DSM-Version waren 57% der Experten mit Arzneimittelherstellern verbandelt. Sie hatten von ihnen etwa Geld für Studien erhalten. Oder Vorträge gehalten, die sie öfters gar nicht selbst verfasst hatten, sondern Schreiberlinge im Sold einer Pharmafirma.

„Wann immer Sie lesen, dass es eine Zunahme einer Störung gibt, haben sich nicht etwa die Menschen verändert, sondern die Bezeichnungen.“ Allen Frances4

Im Vorentwurf für DSM-5 hatten derlei Interessenkonflikte der Verfasser nicht etwa abgenommen, sondern waren gestiegen: von 57% auf 69% der Experten.1 Das wollten unabhängige Mediziner nicht hinnehmen. Zu leicht tragen derartige Abhängigkeiten ebenso wie berufspolitische Hintergründe dazu bei, dass neue „Krankheiten“ ausgerufen und Menschen mit Alltagssorgen und leichten Befindlichkeitsstörungen zu Patienten gemacht werden, die Pillen schlucken müssen. Ganz im Sinne der pharmazeutischen Industrie.

Im DSM-5 bestätigen sich solche Fehlentwicklungen. Da gibt es zum Beispiel erstmals die Diagnose DMDD (Disruptive mood dysregulation disorder), was ungefähr „Stimmungsschwankungen mit Wutausbrüchen“ entspricht. Diese neu zusammengezimmerte und nach vorliegenden ersten Tests unspezifische und zudem unzuverlässige „Diagnose“ ist quasi ein Mix aus den Kriterien für Depression und ADHS.2 Sie ist konstruiert worden, weil nach Einführung des Vorläufers DSM-4 die Kriterien für „bipolare Störung“ so ausufernd angewendet wurden, dass plötzlich eine mehr als 40-fache Zunahme dieser Diagnose bei Kindern und Jugendlichen in den USA beobachtet wurde.3 Und das konnte nicht richtig sein.

Jetzt heißt es in den USA bereits: Bipolar ist out, DMDD ist in. Das mag als lächerliche psychiatrische Verirrung erscheinen, aber: Zu befürchten ist, dass derart diagnostizierte „Patienten“ als neue Zielgruppe für Arzneitherapien herhalten sollen.

Und da spielt das Manual eine wichtige Rolle. Denn die amerikanische Zulassungsbehörde FDA verlangt, dass die diagnostischen Einteilungen des DSM bei allen psychiatrischen Studien in den USA berücksichtigt werden. Das hat die Konsequenz, dass Arzneimittelstudien zur Therapie der „neuen Krankheiten“ gemacht werden, die dann auf die Zulassung dieser Medikamente für diese Krankheit hinauslaufen.

Wenn die Europäer nicht aufpassen, werden die Definitionen der DSM-5 auch Einfluss auf die zukünftige Klassifikation von Erkrankungen durch die Weltgesundheitsorganisation haben. Das wiederum würde dann die Diagnosestellung und Therapieentscheidungen in unserem Land beeinflussen.

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– Gute Pillen – Schlechte Pillen 04/2013 / S.06