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©Blattepidermis/ iStockphoto.com

„Für sich kann man es sich nicht vorstellen“

Der künstliche Darmausgang bleibt ein Tabuthema

In Deutschland leben geschätzt rund 150.000 Stomaträgerinnen und -träger, das sind Menschen mit künstlichem Darmausgang oder künstlicher Harn­ableitung. Wie lebt es sich damit? Was müssen Familie und Freunde beachten? Wir haben mit Maria Haß gesprochen, Mitarbeiterin einer bundesweiten Selbst­hilfevereinigung und selbst seit über 40 Jahren Stomaträgerin.

GPSP: Was genau ist ein Stoma?

Es ist ein mit einer Operation geschaffener kleiner Ausgang eines Darmteiles durch die Haut der Bauchdecke. Das Wort kommt aus dem Griechischen, Stoma bedeutet Mund, Öffnung. Das Stoma ist fest in die Haut eingenäht. Für den Träger ist es zu Beginn natürlich irritierend – die Ausscheidungen laufen einfach so heraus. Man hat keine Kontrolle mehr darüber. Deswegen gibt es spezielles Material, meist in Beutelform, das die Ausscheidungen sicher, geruchsdicht und auch hautfreundlich auffängt. Ein Stoma ist nichts, was irgendwie schlimm aussieht, es ist auch keine Wunde.

Wann wird ein künstlicher Darmausgang notwendig?

Ein künstlicher Darmausgang kann vorübergehend, aber auch dauerhaft notwendig sein. Meist in der Folge von Darmkrebs. Eine weitere Ursache sind chronisch-entzündliche Darmerkrankungen. Oder Fehlbildungen, etwa dass der Bereich des Schließmuskels nicht komplett ausgebildet ist. Auch dann kann ein Stoma notwendig sein. Bei Blasenkrebs muss manchmal eine künstliche Harnableitung angelegt werden.

Was passiert, bevor ein Stoma angelegt wird?

Das hängt stark von der Erkrankung ab: Bei chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen behandelt man, wenn es eben geht, möglichst lange medikamentös.Häufig wird dann ein künstlicher Ausgang auch nur vorübergehend angelegt, um vielleicht ein Teilstück des Darmes ruhig zu stellen, damit es heilen kann. Ist dies der Fall, kann das Stoma wieder rückverlagert werden. Auch beim Mastdarmkrebs wird ein Stoma oft nur vorübergehend angelegt. Bei Blasenkrebserkrankungen kann ebenfalls ein Stoma notwendig werden. Oft kann aber auch eine sogenannte Neoblase aus Darmanteilen geformt werden, die dann mit der Harnröhre verbunden wird, sodass man auf natürlichem Weg den Urin ausscheiden kann und kein Stoma notwendig wird.

Was sind mögliche Komplikationen eines Stomas?

Es kann passieren, dass jemand das Material, das das Stoma abdichten soll, nicht verträgt. Oder dass die Haftfläche der Beutel nicht gut auf der Haut haftet und Hautschäden entstehen, weil etwa der Stuhl oder Urin mit der Haut in Kontakt kommen. Dann muss durch die Verwendung zusätzlicher Hautschutzmaterialien versucht werden, die entzündete Haut schnell zum Abheilen zu bringen und eine sichere Abdichtung zu erreichen.

Viele Menschen haben sicher auch Angst davor.

Viele haben zunächst Angst, aber eher, weil sie sich gar nicht vorstellen können, was ein Stoma ist. Das gehört ja auch nicht zum Alltagswissen. Viele kennen niemanden, der mit Stoma lebt. Wenn es anders wäre, dann wüssten sie, dass diese Menschen nicht unangenehm riechen, dass sie nicht auffallen, sondern dass sie sich bewegen wie die meisten anderen auch. Für sich selbst kann man sich das erst schwer vorstellen. Dazu kommt, dass ein Stoma das Tabuthema der Körperausscheidungen berührt. Man hat diese nicht mehr wie gewohnt unter Kontrolle und ist dennoch täglich damit befasst: Bisher ging man einfach auf die Toilette. Mit einem Stoma geht das so einfach nicht mehr.

Wie werden Stuhl und Urin auf­gefangen?

Es gibt verschiedene Beutelarten. So benutzt man bei einem Dünndarmausgang wegen der häufigen und sehr weichen Stuhlausscheidungen sogenannte Ausstreifbeutel. Diese haben unten eine Öffnung, durch die man bei Bedarf entleeren und wieder verschließen kann. Das erspart einen täglich mehrfachen kompletten Beutelwechsel. Ähnlich ist es bei einer künstlichen Harnableitung: Bei diesen Beuteln kann der Urin durch einen kleinen Ablasshahn direkt in die Toilette entleert werden. Geschlossene Beutel kommen bei eher festeren und weniger häufigen Stuhlausscheidungen infrage. Hier wird der Beutel, wenn er sich gefüllt hat, immer komplett gewechselt. Je nach System muss ein kompletter Wechsel mehrmals täglich erfolgen, bei anderen je nach Erfordernis bis zu zwei-, dreimal in der Woche. Man ist auf jeden Fall intensiver mit den Ausscheidungen beschäftigt.

Braucht es spezielle Kleidung?

Nein. Manche mögen es nicht gerne, wenn die Kleidung eng anliegt. Es kann ja auch sein, dass sich ein leicht gefüllter Beutel durch den Stoff ein bisschen abzeichnet. Ich habe einen Dünndarmausgang zum Beispiel, schon seit über 40 Jahren. Und ich trage ganz normal Jeans und T-Shirt. Das muss aber jeder für sich selbst rausfinden, wie er sich wohlfühlt. Ich weiß, dass ich in den ersten Wochen auch nur weitere Röcke getragen habe.

Muss bei der Ernährung etwas beachtet werden?

Jein. Grundsätzlich muss wegen eines Stomas auf nichts verzichtet werden. Es kann sein, gerade bei einem Dünndarmausgang, dass sehr faserreiche Nahrung ein Problem sein kann, etwa Porree oder Spargel oder Nüsse und Möhren. Es hilft, wenn man diese Nahrungsmittel sehr klein schneidet und gut kaut.

Was raten Sie Menschen, die ein Darmstroma erhalten haben?

Gerade zu Beginn darauf achten, was man verträgt und was nicht. Langsam mit dem Essen beginnen, und schauen, wie der Körper reagiert, wenn die natürliche Regulierung durch Mastdarm und Schließmuskel weg ist. Man muss ausprobieren und lernen: Wie reagiert mein Darm eigentlich? Manchmal ist es angenehmer, bestimmte Nahrungsmittel zu meiden, zum Beispiel solche die stark blähen – zumindest wenn man nicht zu Hause ist. Man kann ja jetzt auch die Pupse nicht zurückhalten so wie zuvor. Es ist natürlich unangenehm, wenn sie geräuschvoll in Gegenwart anderer entweichen. Der Vorteil ist allerdings, dass niemand sie riechen kann, weil sie in den Beutel gehen.

Sind Medikamente nötig?

Wegen des Stomas nicht. Wenn man ein Dünndarmstoma hat, hängt es ein bisschen davon ab, wie viel vom Dünndarm entfernt worden ist. Es kann sein, dass Vitamin B12 zusätzlich als Spritze gegeben werden muss, weil es nur im letzten Teil des Dünndarms resorbiert werden kann. Der Speicher hält über lange Zeit hinweg, aber es kann sein, dass man doch einmal in eine Mangelsituation kommt. Bei Urostomie-Trägern – also Menschen mit künstlicher Harnableitung – kann es sein, dass der Harn angesäuert werden muss. Vor allem Träger eines Dünndarm- oder Urinstomas müssen darauf achten, dass sie ausreichend trinken. Man verliert, speziell bei einem künstlichen Dünndarmausgang, sehr viel Flüssigkeit über das Stoma, weil der Teil des Darms fehlt, der die Flüssigkeit rückresorbiert: der Dickdarm.

Informationen dazu sollten schon zu Beginn in der Klinik durch die Ärzte gegeben werden. Gute Ansprechpartner sind aber auch die auf Stomaversorgung spezialisierten Pflegekräfte, die sogenannten Stomatherapeuten, die auch in der ambulanten Versorgung tätig sind.

Kann man eigentlich mit Stoma schwimmen gehen?

Ja. Die Versorgungsartikel sind schon seit Langem – also auf jeden Fall seit Ende der 1970er Jahre – dicht in beide Richtungen. Sie sind geruchsdicht, aber auch wasserdicht, sodass man damit ohne Probleme schwimmen gehen kann. Das ist kein Sicherheitsproblem für einen selbst und auch kein Hygieneproblem für andere.

Was empfehlen Sie den Partnern und Freunden?

Beim Partner kommt es natürlich so ein bisschen darauf an: Ist es ein Mensch, mit dem man schon lange Zeit zusammen ist, oder den man gerade erst kennengelernt hat? Wenn man einen festen Partner hat, ist dieser meist von Anfang an involviert und weiß Bescheid. Ein Stoma an sich ist auch kein Hinderungsgrund für das Leben der Sexualität. Man braucht keine Angst davor zu haben. Aber man muss miteinander darüber reden.

Für diejenigen, die gerade einen neuen Partner kennenlernen, kommt es irgendwann natürlich zum Schwur. Man muss es nicht bei den ersten Treffen sagen, aber irgendwann wird es auch unvermeidlich, dass der Partner es weiß. Da gibt es auch nicht den Königsweg, wann man das machen muss oder sollte. Bei Freunden oder Familie bin ich sonst gut damit gefahren, möglichst offen damit umzugehen. Aber ich binde es auch nicht jedem auf die Nase. Was ich unbedingt sagen möchte: Gerade was das Alltagsleben mit Stoma angeht, sind die Erfahrungen und Tipps von Gleichbetroffenen – wie in Selbsthilfegruppen – Gold wert!

Auf der Website Ihres Verbands finden sich Berichte von Menschen, die frühverrentet wurden.

In der Regel hat ein Stoma nichts mit einer Frühverrentung zu tun. Die ist eher Folge der Grunderkrankung oder eben anderer Erkrankungen, die der Betreffende noch hat. Lange Krankheitszeiten bei chronisch-entzündlichen Erkrankungen können auch Grund für Frühverrentung sein. Oder es ist Folge einer Operation. Denken Sie etwa an eine Notfalloperation, wenn ein Darmverschluss oder ein -durchbruch vorliegt. Das hat große Folgen für die Gesundheit insgesamt. Das Stoma ist eigentlich am wenigsten die Ursache für eine Frühverrentung, weil man die meisten Berufe auch mit Stoma machen kann. Es gibt natürlich körperlich schwere Berufe, die nicht immer fortgeführt werden können und vielleicht eine Umschulung oder eine Umsetzung im Betrieb notwendig machen.

Welche zum Beispiel?

Arbeiten auf dem Bau oder etwa der Beruf des Heizungs- und Lüftungsbauers, den man oft nur in irgendwie gebückter Haltung ausführen kann, das geht dann häufig nicht mehr. Zudem muss beachtet werden, dass es schon Einschränkungsempfehlungen gibt, etwa das Heben von schweren Gewichten – denn es besteht schon eine erhöhte Gefahr für einen Narbenbruch ums Stoma herum.

Was ist genau hier das Problem?

Ein Stoma ist eine Schwachstelle in der Bauchdecke, denn es wurde ein Loch in die Bauchmuskulatur geschnitten und dort kann sich jetzt ein Bruch, eine Aussackung, bilden. Aber auch das ist individuell sehr unterschiedlich. Es gibt Menschen, die haben einen Bruch, weil sie einmal kräftig geniest haben. Andere betreiben zwar jetzt nicht gerade Gewichtheben, sind aber auch mit Stoma weiter als Landwirt körperlich sehr aktiv.

Vielen Dank für das Gespräch!

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– Gute Pillen – Schlechte Pillen 04/2020 / S.19